Cenî: „Friedenskorridor“ ist Teil der Kriegspolitik
Das kurdische Frauenbüro Cenî ruft angesichts der bedrohlichen Lage in Rojava zum Kampf gegen alle kriegstreibenden patriarchalen Regierungen auf.
Das kurdische Frauenbüro Cenî ruft angesichts der bedrohlichen Lage in Rojava zum Kampf gegen alle kriegstreibenden patriarchalen Regierungen auf.
Das in Düsseldorf ansässige „Frauenbüro für Frieden – Cenî“ bezeichnet das vage gehaltene Abkommen zwischen der Türkei und den USA als große Bedrohung, die eindeutig Teil der Kriegspolitik ist. Wir geben die Erklärung des Frauenbüros in voller Länge wieder:
Am 7. August erklärten die Türkei und USA, dass sie in Bezug auf die Einrichtung eines sogenannten „Friedenskorridors“ auf dem Gebiet der demokratischen Föderation Nordostsyriens übereingekommen seien. Die Diskussionen um einen Sicherheitskorridor kamen nach dem militärischen Sieg über den IS im März 2019 auf. Dieser Sieg war nur aufgrund der großen Bemühungen und Opfer der Bevölkerung vor Ort möglich. Im Kampf gegen den IS sind 11.000 Kämpfer*innen der SDF (Syrian Democratic Forces) gefallen, es gibt mehr als doppelt so viele Verletzte. Neben diesen militärischen Anstrengungen bauten die Kurd*innen, Araber*innen, Suryoye, Armenier*innen, Ezid*innen, Turkmen*innen, Tscherkess*innen und Tschetschen*innen unter schwierigsten Bedingungen eine basisdemokratische Gesellschaft auf. Innerhalb dieser stellt die Selbstbestimmung der Frauen und der verschiedenen Glaubensgemeinschaften und ethnischen Gruppen sowie die kommunale Organisierung die Grundlage für ein freies und friedliches Zusammenleben dar. Diese mit Liebe und unermüdlicher Energie erschaffene Selbstorganisierung ermöglichte es der Gesellschaft, sich trotz der von hegemonialen und lokalen Status-Quo-Mächten verfolgten Kriegspolitik sicher zu bewegen und zuversichtlich in die Zukunft zu schauen. Aus Sicht der Bevölkerung vor Ort war und ist die Diskussion um eine von Besatzern eingerichtete „Sicherheitszone“ oder gar einen „Friedenskorridor“ absolut unnötig, stellt eine große Bedrohung dar und ist ganz klar Teil der gegen die Bevölkerung gerichteten Kriegspolitik.
Die Bezeichnung „Friedenskorridor“ ist eine Farce
In Afrin hat die Weltöffentlichkeit gesehen, wie die Besatzungsmacht Türkei vorgeht. Weil sich die Menschen im Kanton Afrin durch Selbstorganisierung während des gesamten Syrienkrieges vor dem IS schützen konnten, hat der türkische Staat schließlich die Arbeit des IS selbst übernommen. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurden mit der völkerrechtswidrigen Invasion im Januar 2018 über 1000 Menschen getötet, Dörfer, historische und religiöse Stätten, die Natur und die wirtschaftlichen Ressourcen der Bevölkerung zerstört. Mehr als 300.000 Menschen wurden vertrieben. Die dort anstelle der vertriebenen Bevölkerung angesiedelten und mit der Türkei zusammenarbeitenden Dschihadisten begehen bis heute täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie plündern, entführen Angehörige von Familien, denen die Flucht nicht mehr gelang, vergewaltigen Frauen, foltern Gefangene zu Tode, brennen die Natur nieder und rauben die lokalen Kulturschätze.
Genau solche Verbrechen drohen nun den selbstverwalteten Gebieten der Demokratischen Föderation Nordostsyriens an der Grenze zur Türkei. Eine besondere Farce ist es, dass nun die Vorbereitung der erneuten Vertreibung und Ermordung der lokalen Bevölkerung unter dem Begriff „Friedenskorridor“ geführt werden soll.
Politische Lösung statt Krieg
Die vom Krieg gebeutelte Bevölkerung sehnt sich nach Frieden. Mit der fehlenden Lösung für den Umgang mit den fast 15.000 gefangenen IS-Anhängern und ihren Angehörigen ist die internationale Dimension des Krieges im Mittleren Osten auf die Tagesordnung der internationalen Gemeinschaft getreten. Nach dem territorialen Sieg über den IS gäbe es eine Möglichkeit für gesellschaftliche und politische Lösungen statt Krieg. Da aber die patriarchalen Mächte wie die Türkei, Russland, USA keine dementsprechenden Fähigkeiten haben, diese zu entwickeln und nur die Sprache des Krieges kennen, wird es keinen Frieden geben, wenn nicht endlich alle demokratischen und friedensliebenden Menschen weltweit aufstehen und ihren patriarchalen Regierungen Einhalt gebieten. Wir möchten in aller Deutlichkeit vor allem denjenigen ins Bewusstsein rufen, die zwar von Frieden und Demokratie reden, aber sich nicht gegen ihre Unterwerfung unter eine patriarchale Regierung auflehnen: die Kriege im Mittleren Osten, die Naturzerstörung und die Gewalt gegen Frauen sind unmittelbare Folge der kriegstreiberischen Politik der Hegemonialmächte, der Waffendeals und des Wettlaufs um die Ausbeutung der dortigen Ressourcen. So wie der Krieg in Syrien unmittelbare Folge der patriarchalen Politik der Hegemonialmächte ist, wird ein Angriff auf die Selbstorganisierung der lokalen Bevölkerung und die Selbstbestimmung der Frauen wiederum direkte Auswirkungen auf das Leben aller Menschen und v.a. der Frauen weltweit haben. Es wird den patriarchalen Kräften wie dem IS, den Waffenkonzernen, den Hegemonialmächten neue Kraft geben. Es wird die Menschenrechte ein weiteres Mal unterhöhlen und die Hoffnungslosigkeit auf ein unerträgliches Maß steigern. Wenn die Hoffnung zerstört wird und die Menschheit eine weitere Tragödie zulässt, wird es in Kürze zu vielen weiteren Tragödien kommen. Deshalb müssen sich alle bewusst sein, dass diese Angriffe gegen die gesamte Menschheit gerichtet sind.
Gegen kriegstreibende patriarchale Regierung kämpfen
Die Menschen in Nord- und Ostsyrien haben zum Ausdruck gebracht, dass die Bevölkerung im Falle einer Besatzung überall Widerstand leisten wird. Wir rufen in diesem Sinne alle Feminist*innen, Friedensaktivist*innen, Umweltaktivist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen dazu auf, den Kampf gegen ihre kriegstreibenden patriarchalen Regierungen (wieder) aufzunehmen und mit der größten Entschlossenheit zum Erfolg zu führen!