Die Zeit der militärischen Untätigkeit und ihre Folgen

Die kurdische Guerilla hat Verantwortung übernommen und alle militanten Aktionen eingestellt. Die Antwort war das Beharren auf dem Krieg. Von nun an muss die Kampffront mit allen gesellschaftlichen Dynamiken erweitert werden.

In ihrer fünfzigjährigen Kampfgeschichte hat sich die kurdische Freiheitsbewegung kontinuierlich weiterentwickelt. Sie hat ihren Organisierungsgrad erweitert und sich auf breitere Massen ausgedehnt. Es ist ihr gelungen, den militärisch-politischen Kampf entlang einer bestimmten Fortschrittslinie zu entwickeln und zu führen. Unter diesem Gesichtspunkt besteht der wichtigste Faktor, der die PKK-Bewegung von anderen Formationen mit linker Ideologie unterscheidet, darin, dass sie ihre moralischen und politischen Prinzipien zum Schutz und zur Stärkung der gesellschaftlichen Normen ständig lebendig hält.

Die Entscheidung der KCK, alle militanten Aktionen nach der Erdbebenkatastrophe im Februar einzustellen, war eine Konsequenz dieser Verantwortung. Die Gründe und Folgen dieser Entscheidung müssen in einem größeren Rahmen untersucht werden. Zunächst einmal ist festzustellen, dass es sich nicht um einen Waffenstillstand handelte.

Die Gründe für den Beschluss zur Untätigkeit sind vor allem in zwei Punkten zu sehen. Erstens hat der Ko-Vorsitz der KCK diese Entscheidung im Einklang mit der moralischen und politischen Haltung und den Prinzipien der kurdischen Freiheitsbewegung angesichts einer menschlichen Tragödie getroffen. Die HPG haben sich bedingungslos an diesen Beschluss gehalten. Die Entscheidung war ein Zeichen für die Verantwortung der PKK gegenüber der Gesellschaft.

Der zweite Grund war, dass die türkische Armee ihre Soldaten in Guerillastellungen schickte, um sie dort zu sterben zu lassen, obwohl sie wusste, dass sie die Guerilla nicht vernichten kann, und dass viele der gefallenen Soldaten aus der Erdbebenregion stammten. Die Einstellung militanter Aktionen erfolgte in der Zeit einer großen menschlichen Tragödie, um das Leid nicht zu vergrößern.

Dieser Zeitraum der Untätigkeit, der sich über mehr als vier Monate erstreckte, enthält bemerkenswerte und wichtige Details. Obwohl die herrschenden Medien große Anstrengungen unternahmen, um die Fakten zu unterdrücken, bleibt das gesellschaftliche Gedächtnis lebendig.

Mit der Entscheidung wurden militante Aktionen der Stadtguerilla vollständig eingestellt. Die Guerilla in den Bergen blieb passiv, solange die türkische Armee nicht angriff. Es wurde jedoch auch erklärt, dass die Kämpferinnen und Kämpfer bei jedem Angriff von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen werden.

Ununterbrochene Angriffe des türkischen Staates

Während dieser Zeit setzte der türkische Staat sein militärisches und politisches Vorgehen ununterbrochen fort und weitete seine militärischen Operationen in Bakur (Nordkurdistan) aus. Parallel zu den Militäroperationen in ländlichen Gebieten wurden in den Städten Hunderte Menschen festgenommen und viele von ihnen verhaftet. Die türkische Besatzungsarmee führte in diesen vier Monaten Hunderte umfassende Operationen in Guerillagebieten von Dersim bis Amed, von Botan bis Serhed und von Mêrdîn bis Garzan durch. Die Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan wurden 373 Mal von Kampfflugzeugen, 139 Mal von Kampfhubschraubern und 4336 Mal von Panzerhaubitzen und schweren Waffen beschossen. Darüber hinaus wurden in den Guerillagebiete 224 Mal Phosphorbomben, verbotene Kampfmittel und chemische Waffen eingesetzt.

In den vier Monaten der von der kurdischen Bewegung erklärten Untätigkeit sind 32 Guerillakämpfer:innen gefallen, davon 22 in Bakur und zehn in den Medya-Verteidigungsgebieten. Im Zuge der türkischen Angriffe kam es zu Feindkontakten, bei denen 84 Soldaten und ein Kontra getötet wurden.

Die Guerilla befindet sich in den letzten zwei Jahren in einem großen Kampf und hat den türkischen Invasionstruppen durch die Anwendung angepasster Methoden schwere Verluste zugefügt. Dass sie in dieser Phase auf eigenständige Aktionen verzichtet hat, verweist auf ihre moralischen und politischen Prinzipien gegenüber der Gesellschaft. Die Pool-Medien der türkischen Regierung haben große Anstrengungen unternommen, um eine gegenteilige Wahrnehmung zu erzeugen.

Hulusi Akar: Kurden töten hat Vorrang

Während die Menschen in den Erdbebengebieten darauf warteten, dass staatliche Institutionen und die Armee ihnen helfen würden, trat Chemie-Hulusi, Erdoğans Kriegsminister, vor die Kameras und sagte: „Wir können unsere Truppen nicht aus den Einsatzgebieten abziehen." Mit anderen Worten sagte er: „Wenn ihr sterbt, dann sterbt ihr, unser Problem ist es, Kurden zu töten.“ Und genau das ist geschehen. Das militärische Personal und die Ausrüstung, die zur Rettung der Menschen unter den Erdbebentrümmern hätten eingesetzt werden sollen, wurden ausschließlich zur Aufrechterhaltung der Belagerung der Guerillagebiete und zur Vernichtung der Guerillakämpfer:innen verwendet.

Es hat sich gezeigt, dass selbst das Türkentum, das der Staatsgeist hochhält, keinen Pfennig wert ist. Man kann es einfach sterben lassen.

So wurden Frachthubschrauber vom Typ Chinook, die bis zu 15 Tonnen Fracht transportieren können, für Angriffe auf Guerillagebiete und für den Transport von Militärgütern eingesetzt, anstatt in die Erdbebengebiete geschickt zu werden, um Ausrüstung zur Trümmerbeseitigung zu transportieren. Zelte, die die Katastrophenschutzbehörde AFAD den Erdbebenopfern hätte geben sollen, wurden an Soldaten im Einsatzgebiet verteilt. In verlassenen Stellungen der Armee wurden Materialien des türkischen Roten Halbmonds gefunden. Das Erdoğan-Regime, das sehr um das Ansehen der türkischen Armee in der Bevölkerung besorgt ist, schickte seine Soldaten weiterhin zum Sterben in die Guerillagebiete, anstatt sie im Erdbebengebiet einzusetzen. Mit anderen Worten: Es hat sowohl sein Volk sterben lassen als auch seine Soldaten in den Tod geschickt.

Es hätte eine demokratische Ausgangsbasis entstehen können

Ein dritter Punkt ist, dass vor der Entscheidung zur Untätigkeit von vielen Seiten Nachrichten an die kurdische Freiheitsbewegung gesandt wurden und sich Forderungen entwickelten. In diesen Botschaften wurde die Guerilla aufgefordert, ihre militärischen Aktionen einzustellen. Diese Forderungen kamen sowohl aus dem Inland als auch aus internationalen Kreisen. Obwohl die Entscheidung zur Untätigkeit keine Lösung darstellte, hätte sie dazu genutzt werden können, eine demokratische Grundlage zu schaffen. Auf diese Weise hätte das faschistische Erdoğan-Regime zu einer Lösung gedrängt werden können.

Doch alle sogenannten Friedenskräfte ignorierten den Prozess. Verschiedene Seiten erwarteten von der kurdischen Freiheitsbewegung alle möglichen Schritte und trugen nicht ihren Teil dazu bei, sich gegen die unmenschlichen Angriffe des türkischen Staates zu wehren. Die Opposition in der Türkei ließ sich vom Wind des Nationalismus mitreißen und war statt auf demokratischen Wandel eher auf ihre Anteile beim Machterhalt von Erdoğan bedacht.

Auch die demokratischen Kräfte haben den Prozess nicht hinreichend aufgegriffen. Anstatt den Boden für eine gesellschaftliche Einheit so stark wie möglich zu erweitern, wurden marginale Haltungen an den Tag gelegt. Unter diesem Gesichtspunkt hat der viermonatige Zeitraum, in dem die Entscheidung zur Untätigkeit andauerte, die wahren Absichten vieler oppositioneller und demokratischer Gruppen offenbart. Obwohl die kurdische Freiheitsbewegung das erkannte, verlängerte sie ihren Untätigkeitsbeschluss bis nach dem zweiten Wahlgang am 28. Mai, um eine Veränderung zu ermöglichen und zu verhindern, dass die Erdoğan-Regierung Guerillaaktionen als Vorwand nutzt, um mit dem Wind des Nationalismus Stimmen zu gewinnen.

Das war ein sehr richtiger Schritt, denn alles, was Erdoğan wollte, war, dass der Krieg vor den Wahlen wieder aufflammt. Er hatte sogar umfangreiche Vorbereitungen in dieser Hinsicht. Es gab Hinweise auf eine geplante Großinvasion, insbesondere gegen Rojava, aber Erdoğan bekam die notwendigen Genehmigungen nicht. Obwohl Erdoğan die Wahlen erneut gewann, zeigte zumindest das kurdische Volk die notwendige Haltung gegen dieses faschistische Regime. In Kurdistan haben Erdoğan und die AKP eine große Niederlage erlitten.

Die türkischen Besatzer erreichen ihr Ziel nicht

Trotzdem nahm der Prozess mit den Wahlen eine solche Wendung, dass man zu glauben begann, der Kampf sei vorbei. Man wollte die Vorstellung verbreiten, dass alle revolutionäre Dynamik liquidiert worden sei, dass die Guerilla keine Kraft mehr habe und einen Zufluchtsort suche. Während der türkische Besatzungsstaat einerseits seine militärischen Operationen ununterbrochen fortsetzte, führte er andererseits auf diese Weise einen gewaltigen Sonderkrieg. Doch trotz der massiven Angriffe haben alle Institutionen der kurdischen Freiheitsbewegung ihre jährlichen Versammlungen mit breiter Beteiligung durchgeführt. Die Guerilla setzt ihre organisatorische Arbeit trotz aller Angriffe der türkischen Armee in vollem Umfang fort. Einer der Hauptgründe für die intensiven Angriffe auf dieser Ebene war es, die organisatorische und lebenswichtige Funktion und Ordnung der Guerillakräfte zu stören. Aber die einmarschierende türkische Armee konnte dieses Ziel nicht im Geringsten erreichen.

Die Entscheidung machte keinen Sinn mehr

Nach allem, was in dieser Zeit geschah, machte die Entscheidung zur Untätigkeit keinen Sinn mehr. Es hat sich gezeigt, dass nach dieser Phase das Nichtreagieren auf die Angriffe als Ohnmacht interpretiert wird und das faschistische Erdoğan-Regime das auszunutzen versucht. Anteil an diesem Ergebnis haben auch die Kräfte, die die Dynamik des Prozesses nicht richtig lesen und die Ergebnisse nicht richtig analysieren konnten. Der Wind des Rassismus, den das Erdoğan-Regime durch die PKK und die Kurdenfeindschaft ständig am Leben zu erhalten versucht, sollte sich durchsetzen. Dagegen muss das kurdische Volk einen unermüdlichen Kampf führen. In einer Zeit, in der die Angriffe auf Rêber Apo und die Guerilla auf diesem Niveau zunehmen, müssen alle revolutionären Dynamiken den totalen Widerstand aufnehmen. Die Guerilla hat ihre Verantwortung wahrgenommen und an ihren Prinzipien festgehalten. Sie hat Anteil genommen an dem Leid des Volkes. Die Antwort war das Beharren auf dem Krieg. Von nun an muss die Kampffront mit allen gesellschaftlichen Dynamiken gegen den Zwangsapparat des Faschismus erweitert und intensiviert werden.

Der historische Guerillawiderstand in den Jahren 2021 und 2022 hat die Unbesiegbarkeit der kurdischen Freiheitsbewegung bewiesen. Ebenso hat sich gezeigt, dass sie die Guerilla mit einer verrotteten, verkommenen Armee nicht besiegen können. Gegen dieses faschistische Regime, das seine eigenen Soldaten verbrennt, sie mit Bomben vernichtet und nicht einmal ihre Leichen einfordert, muss die gesellschaftliche Organisierung auf die höchste Stufe gehoben werden und der Guerillakampf muss sich auf alle Gebiete ausweiten. Es handelt sich um einen Prozess, bei dem die Strategie des Revolutionären Volkskriegs in jeder Hinsicht in die Praxis umgesetzt werden muss. Die kurdische Jugend sollte dafür nicht auf eine Anweisung warten. Die Perspektive des Prozesses ist sehr klar. Alle revolutionären Dynamiken müssen den totalen revolutionären Widerstand gegen die Apparate und Kräfte des faschistischen Regimes aufnehmen.