Duran Kalkan hat als Mitglied des Exekutivrats der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in einer Sondersendung bei Medya Haber zum radikalen Widerstand gegen den AKP/MHP-Faschismus aufgerufen. Alle Kräfte müssten sich auf einen entsprechenden Kampf vorbereiten, erklärte Kalkan in dem ausführlichen Beitrag. Wir dokumentieren Ausschnitte des auf Türkisch geführten Interviews in deutscher Übersetzung.
Sprechen wir zunächst über die aktuelle Situation von Abdullah Öcalan. Was sind die neuesten Entwicklungen in Bezug auf ihn und seine anhaltende Inhaftierung auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali?
Als Bewegung und als Volk haben wir seit 27 Monaten keine Informationen von Rêber Apo und den anderen auf Imrali inhaftierten Genossen erhalten. Anwält:innen und Politiker:innen sprechen regelmäßig über diese Situation, und auch unsere Freund:innen haben kürzlich eine Bewertung zu diesem Thema abgegeben. Sie alle sagen, dass es eine solche Form der Isolation noch nie in der Geschichte gegeben hat. Selbst die Maßnahmen gegen Nelson Mandela in Südafrika waren nicht so hart. Das Recht auf Information ist unantastbar. Aber dieser Zustand der Incommunicado-Haft und der absoluten Isolation hält an. Von Seiten derjenigen, die für Imrali verantwortlich sind, gibt es absolut keine Veränderung.
Man mag sich feindlich gegenüberstehen, aber auch hier gibt es Grenzen. Es gibt so etwas wie Kriegsrecht und Feindstrafrecht. Lasst uns davon ausgehen, dass wir Feinde sind. Aber Feinde sprechen miteinander. Sie stehen in Kommunikation miteinander. Denn wenn wir Geschichte betrachten, dann wird klar, dass nicht alle Kriege damit enden, dass eine Seite die andere Seite vollständig vernichtet. Kompromisse und Vereinbarungen sind das wahrscheinlichere Ende. Diese entwickeln sich durch Kommunikation und Verhandlungen. Wir mögen als Feinde betrachtet werden, aber diese Regierung hatte uns zuvor bereits Versprechungen auf höchster Ebene, auf Ministerebene und sogar auf der Ebene des Präsidenten gemacht.
Man könnte natürlich sagen: Wie kann man einem Versprechen der AKP Glauben schenken? Alles, was sie sagen, ist eine Lüge. Natürlich können wir da nicht einfach darüber hinweggehen. Das Versprechen muss erfüllt werden. Wir haben wiederholt erklärt, dass auf Imrali ein Zustand der Gesetzlosigkeit herrscht. Die Isolation geht weiter. Und warum [kommen wir angesichts dessen zu dieser Auffassung]? Weil diejenigen, die diesen Ort kontrollieren, versprochen haben, dass dies nicht geschehen würde. Sie erfüllen weder die Anforderungen ihres Gesetzes, noch erfüllen sie ihre eigenen Versprechen. Und sie setzen auch internationale Resolutionen nicht um. Nicht nur in Bezug auf Imrali. So hat das Ministerkomitee des Europarats beschlossen, dass die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, sowie weitere im Zusammenhang mit dem Kobanê-Verfahren Inhaftierte aus der Haft entlassen werden müssen. Angeblich ist die Türkei an das europäische Recht gebunden. Sie akzeptiert es, wendet es aber nicht an. Der türkische Staat verfolgt weiterhin den Ansatz, nichts anderes als seine eigene Politik anzuerkennen. Wir haben auch schon über die Frage der konstruierten Disziplinarstrafen [gegen Abdullah Öcalan] gesprochen. Warum wurden diese Strafen verhängt? Einmal hieß es, sie seien für lautes Sprechen verhängt worden. Wenn es eine Strafe gibt, muss es einen Grund dafür geben. Aber diese Gründe werden nicht genannt. Wir wissen ganz genau, dass in Imrali nichts passieren kann, was eine solche Strafe legitimieren könnte. Das sind alles Konstruktionen, um die tatsächliche Situation zu verschleiern. Ein Aspekt ist die Verhinderung von Besuchen [von Familienmitgliedern oder Anwält:innen], aber der viel wichtigere Hauptaspekt ist, dass im 25. Jahr [der Inhaftierung von Abdullah Öcalan] die Situation von Rêber Apo und des Imrali-Systems nach europäischem Recht diskutiert werden muss. Es geht um das so genannte „Recht auf Hoffnung”. Diese Situation muss erneut erörtert werden. Der türkische Staat müsste verurteilt und Rêber Apo sogar freigelassen werden.
Diese Situation kann so nicht weitergehen. Europa darf nicht schweigen. Die europäischen Institutionen, das Antifolterkomitee CPT und der Europarat machen sich mitschuldig an diesem Rechtsbruch und an dem, was auf Imrali geschieht. Deshalb gibt es diesbezüglich konkrete Kritik. Das ist ganz klar. Von diesen Institutionen haben wir nicht viel gehört.
„Das kurdische Volk hat das Regime abgewählt”
Im Mai haben Wahlen in der Türkei ùnd Nordkurdistan stattgefunden und das AKP/MHP-Regime verbuchte erneut den Sieg für sich. Wie bewerten Sie diese Situation?
Die Volksallianz hat nach den Wahlen eine neue Regierung gebildet. In der Ägäis, an der Mittelmeerküste, in der Marmara-Region und in Kurdistan konnte dieses Bündnis [AKP und Verbündete] nicht gewinnen. Aber es hat an anderen Orten gewonnen. Jetzt bildet es die neue Regierung. Aber das kurdische Volk hat sowohl Tayyip Erdoğan als auch die Volksallianz mit mehr als 70 Prozent, bis zu 75 Prozent, abgelehnt. Es hat nicht für die Regierung gestimmt. Die Grüne Linkspartei hat in diesen Orten gewonnen. Sie gewann mit einer Mehrheit von etwa 65 Prozent und in vielen Städten überschritt sie 70 Prozent. In anderen erreichte sie 55 bis 60 Prozent. Jetzt bildet Tayyip Erdoğan die neue Regierung und die Volksallianz wird in Zukunft die Entscheidungen im Parlament treffen. Aber die Kurdinnen und Kurden haben beides abgelehnt. Diese Entscheidungen sind für die Kurden nicht bindend. Es handelt sich nicht um eine Regierung für das kurdische Volk. Das ist es, was ich zu sagen versuche: Wenn es eine solche Situation nicht in Kurdistan, sondern in einem anderen Teil der Welt, sagen wir in Europa, gäbe, würden die Staaten, Politiker:innen und all diejenigen, die sich Menschenrechtsverteidiger:innen nennen, einen Proteststurm losbrechen lassen. Sie würden sagen, dass diese Regierung nicht regieren darf, weil sie abgelehnt wurde. Deshalb habe sie nicht gewinnen können. Aber jetzt sagt niemand auch nur einen Ton. Es ist, als ob es kein solches Ergebnis gegeben hätte. Das kurdische Volk hat die neue Regierung der Türkei abgelehnt. Die Entscheidungen, die sie treffen wird, werden anti-kurdisch sein. Diese neue Regierung wird sich in einem Kriegszustand befinden. Sie wird alles tun, um die Kurdinnen und Kurden zu vernichten. Alle wissen das, aber niemand sagt etwas. Das betrifft auch die Situation auf Imrali, es herrschen Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit. Aber niemand gibt einen Laut von sich. Und warum? Weil sich dort der Repräsentant des kurdischen Freiheitswillens befindet. All das steht im Zusammenhang mit dem Umgang mit dem kurdischen Volk, mit dem Genozid an den Kurden.
„Den Kampf ausweiten und noch größere Ergebnisse erzielen”
Das Folter- und Isolationssystem auf Imrali ist die wichtigste Einrichtung für diesen Völkermord. Dies ist seit fast 25 Jahren der Fall. Davor gab es bereits ähnliche Einrichtungen in verschiedenen Formen. Im letzten Jahrhundert wurden unzählige Menschen in allen vier Teilen Kurdistans an den Galgen gebracht. Das haben wir nicht vergessen.
So ist die heutige Situation, und das ist der Grund, warum sich niemand zu Wort meldet. Diese Tatsache muss thematisiert werden. Natürlich müssen wir noch weiter gehen. Wir müssen sowohl juristische als auch politische Kämpfe führen. Der Kampf ist wichtig, und auf dieser Grundlage gehen unsere Kämpfe in allen Bereichen weiter. Ich möchte an dieser Stelle den Kampf gegen das Folter- und Isolationssystem von Imrali und für die physische Freiheit von Rêber Apo grüßen. Ich möchte allen, die an diesen Kämpfen beteiligt sind, nochmals viel Erfolg wünschen.
Wir sollten nie sagen, dass wir zwar kämpfen, aber keine Ergebnisse erzielen. Unser Kampf ist sehr wichtig. Er hat Auswirkungen auf die Politik. Er hat sicherlich Auswirkungen auf das Leben auf Imrali. Der Kampf des Volkes wird die Mauern von Imrali einreißen und das System der Folter und Isolation zerstören. Wir müssen daran glauben, dass der Kampf siegen wird. Wenn wir ihn ausweiten, wenn wir den Kampf breiter führen, werden wir mit Sicherheit Ergebnisse erzielen. Unser Volk und unsere internationalen Freundinnen und Freunde müssen das wissen. Deshalb sollte es absolut keine Verzweiflung geben. Niemand sollte denken, dass es keine Ergebnisse gibt. Im Gegenteil, wenn wir mehr kämpfen, werden wir auch größere Ergebnisse erzielen. Wir müssen also den Kampf verstärken. Auf dieser Grundlage möchte ich alle dazu aufrufen, den Kampf zu verstärken.
„Feuerpause wurde nur von einer Seite eingehalten”
Die Angriffe des türkischen Staates auf Ihre Bewegung gehen weiter. Was bedeutet das für die Entscheidung Ihrer Bewegung nach dem Erdbeben in der Türkei, alle militärischen Angriffe einzustellen?
Das ist wahrscheinlich das Thema, das derzeit die meiste Aufmerksamkeit oder Neugierde erregt. Unsere Leitung hatte die Einstellung aller Aktionen aufgrund des Erdbebens für notwendig erachtet. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass es die richtige Entscheidung war. Dann hat unsere Bewegung ihren Beschluss bis zu den Wahlen am 14. Mai verlängert, um neue Provokationen zu verhindern. Auch diese Entscheidung halten wir nach wie vor für sinnvoll. Sie wurde von unserer Seite getroffen und war einseitig. Die andere Seite hat keine solche Haltung eingenommen. Das hat sie nie getan. Wenn sie nicht genug Kräfte hatte oder mit anderen Dingen beschäftigt war, waren ihre Angriffe gering. Aber wenn sie die notwendigen Vorbereitungen getroffen hatte, verstärkte sie ihre Angriffe. Unsere Entscheidung, alle Angriffe einzustellen, wurde daher von der Regierung des türkischen Staates nicht befolgt.
„Angesichts der Angriffe wurde unsere Feuerpause bedeutungslos”
Einige Kreise haben gesagt, dass sie diese Entscheidung positiv finden, aber bisher haben sie nichts gemacht und keine Ergebnisse erzielt. Wo stehen wir jetzt? Die Wahlen haben stattgefunden und ihre Ergebnisse sind veröffentlicht worden. Erdoğan hat seine neue Regierung nahezu in Windeseile aufgebaut. Er arbeitet wie eine Maschine. Tayyip Erdoğan hatte sich offensichtlich im Vorfeld gut darauf vorbereitet. Er wusste das alles bereits. Es ist, als ob ein bereits geschriebenes Drehbuch abgespult wird. Parallel dazu hat Erdoğan auch die Angriffe verstärkt. Überall gibt es militärische Angriffe. Es gibt wiederholte Erklärungen unseres zentralen Hauptquartiers bezüglich [der Angriffe auf die] Medya-Verteidigungsgebiete. Es gibt die monatlichen Bilanzen und auch die täglichen Bilanzen. Sie besagen, dass es jeden Tag mindestens 50 bis 60 Angriffe gibt. An manchen Tagen gab es Hunderte von Angriffen, aus der Luft und am Boden. Heute wurden Informationen über die Absicht der Besatzungstruppen veröffentlicht, ihre Angriffe in Xakurke [Gebiet in Südkurdistan] zu verstärken. In vielen Gebieten gab es Angriffe der türkischen Armee, z.B. in Licê und Botan [Gebiete in Nordkurdistan]. Die Guerilla hat sich gegen diese Angriffe zur Wehr gesetzt. Auch Rojava ist ständigen Angriffen ausgesetzt. Şengal [Sinjar] wurde attackiert und es gab auch einen Anschlag in Silêmanî. Die MIT-Führung hat kürzlich gewechselt. Ich vermute, die neue Führung wollte ihre Kompetenz unter Beweis stellen, indem sie in Silêmanî ein Massaker verübte. Am Wahltag wurde außerdem ein Mitglied der IYI-Partei erschossen. Und in Gever wurde ein Kind überfahren. Jeden Tag finden Festnahmen und Verhaftungen statt. Zum Beispiel haben sie die Ko-Bürgermeister:innen von Patnos verhaftet. Es gibt immer mehr Angriffe. Diese Angriffe haben eine militärische und politische Dimension. Angesichts all dieser Angriffe ist unser Beschluss, alle militärischen Angriffe einzustellen, natürlich bedeutungslos geworden.
„Die Guerilla ist bereit”
Es gibt immer mehr Angriffe, und es gibt Widerstand dagegen. Die Guerilla hat sich immer gegen die Angriffe gewehrt, hat Vergeltung geübt und zurückgeschlagen. Sie war in dieser Hinsicht sehr aufmerksam. Die Guerilla muss das noch mehr tun. Sie muss in der Lage sein, neue Angriffsmethoden zu entwickeln, die auf neue, breiter angelegte Ziele ausgerichtet sind, und größere Gebiete umfassen. Sie muss damit über ihren alten Stil hinausgehen. Und ich denke, dass die Guerilla genau das bereits tut. Unsere Kommandant:innen im Hauptquartier haben kürzlich erklärt, dass die Guerilla bereit ist, ihren Teil zum Erfolg beizutragen. Das ist sehr wichtig.
„Es ist nicht klar, wo der Feind als nächstes angreift“
Vor kurzem gab es Angriffe auf Şengal. Und auch Rojava wird angegriffen. In Silêmani wurde ein revolutionärer Patriot ermordet. Wie oft ist das schon passiert? Das überschreitet jetzt eine Grenze. Unsere Genoss:innen, alle Patriot:innen, unser Volk und die revolutionären demokratischen Kräfte der Türkei müssen folgendes sehen: Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die auf der Grundlage von Krieg und Massakern existiert. Das gilt auch für die neu eingesetzte Regierung. Und sie wird noch mehr angreifen. Das müssen alle begreifen und eine entsprechende Haltung einnehmen. Die Menschen müssen sensibel reagieren. Wir können nicht so tun, als gäbe es so etwas nicht. Wir haben es mit einem Feind zu tun, der uns vernichten will, der uns auslöschen will. Und er tut alles, was dafür notwendig ist. Er greift 24 Stunden am Tag an. In dieser Situation müssen wir antworten. Was also tun? Wir müssen unsere Verteidigungsmaßnahmen verbessern. Alle müssen Maßnahmen für ihre eigene Sicherheit ergreifen. Das ist nicht nur für die Guerilla oder unsere revolutionären Kämpfer:innen notwendig, sondern für alle Menschen, Patriot:innen, die Frauen und die Jugend. Denn die Angriffe richten sich gegen alle. Es ist nicht klar, wo und wer als nächstes angegriffen wird. Deshalb muss jeder Teil der Gesellschaft Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Wir müssen Verteidigungsmaßnahmen ergreifen. Wir können nicht so tun, als ob wir in einem freien und demokratischen Umfeld leben würden. Wir sollten nicht darauf warten, dass jemand anderes für unsere Sicherheit sorgt.
„Sie wollen uns ausrotten“
Zweitens ist es notwendig, gegen diese Angriffe zu kämpfen, und wir müssen diejenigen sein, die kämpfen. Jeder patriotische revolutionäre Mann, jede Frau und jeder Jugendliche muss ein Freiheitskämpfer sein. Es gibt einen Feind, der sie angreift. Wann immer sie die Gelegenheit dazu haben, müssen sie kämpfen und dem Feind einen Schlag versetzen, damit sie alle ihre Mittel und Kräfte mobilisieren können. Das ist es, was Widerstand des Volkes bedeutet. Es ist der totale Widerstand. Das nennt man Selbstverteidigung. Reden allein ist keine Selbstverteidigung. Ansätze, die die Selbstverteidigung aus der militärischen Dimension herausnehmen, sind falsch. Dieses Thema ist hauptsächlich militärisch und hat mit Sicherheit zu tun. Es gibt auch andere Bedeutungen. Aber letztendlich ist die militärische Sicherheit von entscheidender Bedeutung. In dieser Hinsicht sollte unserem Volk, unseren internationalen Freundinnen und Freunden, allen Patriot:innen und Genoss:innen klar sein: Sie wollen uns ausrotten. Deshalb können wir nur überleben, wenn wir gegen diejenigen kämpfen, die uns ausrotten wollen, wenn wir ihnen Schläge versetzen und sie besiegen. Es ist unsere Aufgabe, einen solchen Kampf zu führen, einen Krieg zu führen. Alle müssen sich dessen bewusst sein. Wir haben das schon einmal gesagt, aber es wird nicht in die Praxis umgesetzt. Selbst wenn der Feind nicht sehr viel Macht hat, greift er an und erzielt Ergebnisse. Wir dürfen dem Feind diese Möglichkeit nicht geben. Deshalb appelliere ich an alle, sensibel und vorsichtig zu sein, für die eigene Sicherheit zu sorgen und gegen den Feind zu kämpfen. Ich rufe alle auf, gegen die faschistische, kolonialistische und völkermörderische Mentalität und Politik zu kämpfen. Nur ein solcher Krieg wird es uns ermöglichen, am Leben zu bleiben.