Die Anatomie der Morde von Paris – Teil 3

Die Kurdinnen und Kurden fordern auch Anfang 2021 weiter Gerechtigkeit ein. Noch sind nicht alle Puzzleteile der Morde von Paris zusammengefügt. Die neu aufgerollten Ermittlungen in Frankreich konzentrieren sich auf türkische Netzwerke in Europa.

Ein Jahr nach den Morden in Paris tauchten eine Tonaufnahme und ein Dokument auf. Damit wurde aufgezeigt, dass der Anschlag mit Zustimmung des türkischen Staates vom MIT organisiert war. Der Mitschnitt eines Gesprächs zwischen MIT-Angehörigen und dem als „Quelle“ bezeichneten Ömer Güney wurde am 12. Januar 2014 im Internet veröffentlicht. Zwei Tage später wurde der im November 2012 unterzeichnete Schießbefehl öffentlich gemacht.

Fluchtplan

Wenige Tage zuvor, am 4. Januar 2014, erwartete Ömer Güney Besuch im Gefängnis. Das Gespräch mit seinen beiden Komplizen in Deutschland, Ruhi S. und Ümit S., wurde von der Staatsanwaltschaft aufgezeichnet. Güney forderte Ruhi S. mit codierten Begriffen auf, den MIT zu kontaktieren. Bei einem Telefongespräch am 6. Januar wiederholte er die Aufforderung, Ruhi S. sollte zur „Mutter“, also zum MIT gehen. Er teilte mit, dass er in Kürze zur stationären Behandlung ins Krankenhaus kommt, und verwies auf den Fluchtplan, den er Ruhi S. bei einem vorherigen Gespräch übermittelt hatte.

Bei einer Hausdurchsuchung bei Ruhi S. und dem anschließenden Verhör kam das Gericht zu der Erkenntnis, dass „Anne“, das türkische Wort für Mutter, den MIT bezeichnet. Mit „Bey“ war ein MIT-Mitarbeiter gemeint. Ruhi S. hatte gestanden. Auf einem ihm übergebenen Papier war die MIT-Zentrale in Ankara-Ulus markiert. Das Telefon von Ruhi S. wurde von Fachleuten untersucht, dabei wurden auch zuvor gelöschte Fotos wiederhergestellt. Auf drei Fotos vom 9. Januar 2014 befand sich der Plan zur Flucht aus dem Pariser Universitätsklinikum Pitié Salpêtrière. Eine Liste mit Forderungen war besorgniserregend: 150 Kilogramm C4-Sprengstoff, zehn Handgranaten, zwei Uzi, zwei Baretta, ein RPG7... Es gab noch eine weitere Liste mit ähnlichen Forderungen. Eine dieser beiden Nachrichten an Ruhi S. war mit „Verwundeter Wolf“ unterzeichnet.

Verdächtiger Tod

Vier Jahre nach den Morden warteten die Angehörigen der drei Frauen, das kurdische Volk und seine Freundinnen und Freunde immer noch auf Gerechtigkeit. Am 17. Januar 2013 war Ömer Güney festgenommen worden und befand sich seitdem in Untersuchungshaft. Er starb am 17. Dezember 2016 im Alter von 34 Jahren unter verdächtigen Umständen. Der Prozess gegen ihn sollte kurze Zeit später beginnen. Der Auftakt des Gerichtsverfahren war eigentlich für Dezember geplant, wurde jedoch aus nicht öffentlich bekannt gegebenen Gründen verschoben. Der erste Prozesstermin war für den 23. Januar 2017 angesetzt. Bis zum 24. Februar sollte vor einem Pariser Strafgericht verhandelt werden. Mit dem Tod des Angeklagten wurde der Prozess eingestellt.

Die Geständnisse der MIT-Funktionäre

Mit der Zeit tauchten immer mehr Belege dafür auf, dass der türkische Nachrichtendienst den Anschlag organisiert hat. In der Anklageschrift wurde die Rolle des MIT klar benannt, es habe sich jedoch nicht feststellen lassen, ob der Befehl von ganz oben gekommen ist. Die türkische Seite trug in keiner Weise zu den Ermittlungen bei, alle Anfragen blieben unbeantwortet.

Anfang 2017 wollten die Angehörigen eine Fortsetzung der Ermittlungen und stellten Strafanzeige bei der Pariser Staatsanwaltschaft. Am 12. März 2018 wurde eine zweite Anzeige gestellt. Die Angehörigen forderten die Fortführung des Verfahrens durch einen neuen Ermittlungsrichter. Dem Strafantrag wurden neue Belege über die Planung des Anschlags durch den türkischen Geheimdienst beigefügt.

Am 10. Januar 2018 veröffentlichte ANF die Geständnisse von zwei MIT-Verantwortlichen. Erhan Pekçetin, Verantwortlicher für Auslandsoperationen, und Aydin Günel, Verantwortlicher für „menschliche Ressourcen“, waren am 4. August 2017 bei der Planung von Anschlägen gegen die PKK-Führung in Südkurdistan gefasst worden. Beide haben die Echtheit des mit „Top Secret“-Vermerk versehenen Anschlagsbefehls und des Tonmitschnitts von dem Gespräch, bei dem über den Mordplan gesprochen wurde, bestätigt. Die Geständnisse erbrachten auch Klarheit über die vollen Namen und Aufgaben der MIT-Angehörigen, die das am 14. Januar 2014 bekannt gewordene Geheimpapier unterzeichnet hatten:

Uğur Kaan Ayık: War zum Zeitpunkt der Geständnisse Vorsitzender der Abteilung für Sonderaufgaben. Nach Angaben seines Kollegen Aydin Günel war er zur Zeit der Pariser Morde Vorsitzender der Abteilung für ethnisch-separatistische Aktivitäten im Ausland.

Oğuz Yüret: War 2018 Vorsitzender der MIT-Abteilung in Wan. 2013 war er Direktor der für Operationen verantwortlichen Abteilung.

Sabahattin Asal: War 2018 stellvertretender Inspektor für strategische Nachrichten. 2013 war er Vizevorsitzender der Abteilung für ethnisch-separatistische Aktivitäten.

Ayhan Orhan: War Mitarbeiter der Operationsabteilung.

Mit der staatlichen Delegation auf Imrali

Nach Angaben der ehemaligen MIT-Funktionäre, die von der PKK gefangen genommen wurden, hat Sabahattin Asal den Pariser Anschlag geplant. Diese Person war gleichzeitig Teil der staatlichen Delegation, die Gespräche mit Abdullah Öcalan und der PKK geführt hat. Er gilt als rechte Hand von MIT-Chef Hakan Fidan.

Erhan Pekçetin hat ausgesagt, dass er die Personen kennt, die auf dem am 12. Januar 2014 bekannt gewordenen Tonmitschnitt zu hören sind. Seinen Angaben zufolge hat das Gespräch in einem Hotel in Ankara stattgefunden, das Flugticket für Ömer Güney wurde von einer MIT-nahen Agentur in Yeni Mahalle gestellt. Er geht davon aus, dass ein derart sensibler Mord nicht ohne Erdogans Zustimmung hätte stattfinden können. Zur Hierarchie des Schießbefehls sagt er, dass dieser dem Inspektor vorgelegt werden muss: „Der Inspektor fragt sogar den Staatspräsidenten, ich denke nicht, dass er eine solche Entscheidung alleine trifft. Es geht schließlich um ein Thema, das zu internationalen Schwierigkeiten führen kann. Diese drei Personen sind nach kurzer Zeit befördert worden. Sie wurden sehr schnell befördert.“

Bei den genannten drei Personen handelt es sich um Oğuz Yüret, Uğur Kaan Ayık und Ayhan Orhan.

In Belgien gefasste Attentäter

Die Pariser Staatsanwaltschaft entschied im Mai 2019, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Zu diesem Zweck wurde zunächst ein Ermittlungsrichter damit beauftragt, die Komplizen von Ömer Güney zu ermitteln. Damit gaben die französischen Autoritäten zu, dass noch nicht alles unternommen worden ist, um die Täter zu finden. Zu dem Ermittlungsverfahren trugen auch neue Informationen von deutschen und belgischen Behörden bei. Die Angehörigen und ihre Anwält*innen verwiesen im Zusammenhang mit den Pariser Morden auf ein breites Netzwerk in Europa.

Im Juni 2017 hielt die belgische Polizei drei Verdächtige auf, nachdem sie entsprechende Informationen von kurdischen Organisationen bekommen hatte. Dieser Vorfall trug maßgeblich zur Wiederaufnahme der Ermittlungen in Paris bei. Die drei Personen in dem gestoppten Fahrzeug planten einen Mordanschlag auf den kurdischen Politiker Remzi Kartal, Ko-Vorsitzender von Kongra-Gel. Einer der Verdächtigen war ehemaliger Soldat der türkischen Armee. Ein anderer zeigte seinen türkischen Polizeiausweis vor. Nach Angaben aus Ermittlungskreisen waren diese beide Personen zusammen mit vier weiteren türkischstämmigen Personen seit dem 16. Juni in Paris. Bei einem von ihnen soll es sich um einen Scharfschützen handeln. Laut einer kurdischen Quelle verdächtigt die belgische Polizei einen hochrangigen türkischen Diplomaten in Paris, der diese Aktivitäten koordinieren soll. Die belgischen Behörden untersuchen den Fall, die Akte steht jedoch unter Geheimhaltung.

Die Kurdinnen und Kurden fordern auch Anfang 2021 weiter Gerechtigkeit ein. Noch sind nicht alle Puzzleteile dieser politischen Morde zusammengefügt. Der türkische Staat unterhält in vielen europäischen Ländern Netzwerke, die im Zusammenhang mit den Morden von Paris stehen. Darum geht es in den neu aufgerollten Ermittlungen. Ob etwas dabei herauskommt, ist nicht bekannt. Bisher gibt es keine Erklärung der Behörden zu eventuellen Fortschritten bei den Ermittlungen.