Die zwischen Ankara und Paris geschmiedeten Mordpläne fielen in eine harte Zeit. Der türkische Staat versuchte die Vorbereitungen der Guerilla für den Winter 2011/2012 zu unterminieren. Die Guerillagebiete wurden heftig bombardiert. Auch der gesamte Sommer war von Kämpfen geprägt. Es war eine der gewalttätigsten Phasen der letzten dreißig Jahre. Die PKK teilte im Sommer 2012 mit, innerhalb von einer Woche die Kontrolle über weite Bergregionen gewonnen zu haben. Die türkische Armee konnte diese Gebiete nicht betreten.
Diese Phase dauerte bis Januar 2013 an. Sara und Rojbîn kehrten am 6. Januar aus Brüssel nach Paris zurück. Beide waren in unterschiedlichen Angelegenheiten in Belgien gewesen. Parallel dazu hatten geheime Gespräche zwischen dem türkischen Staat und Abdullah Öcalan begonnen. Als Ergebnis konnte am 3. Januar erstmalig eine Delegation der BDP auf Imrali mit Öcalan sprechen. Dieses Treffen stellte den Beginn einer neuen Zeit dar. Abdullah Öcalan bereitete sich auf zerbrechlichen Wegen auf die Ausrufung dieser neuen Zeit am 21. März vor.
Der türkische Staat plante unterdessen den Anschlag in Paris. Seine „Quelle“ observierte die Zielpersonen. In der Nacht vom 7. auf den 8. Januar drang Ömer Güney in den kurdischen Verein in Villiers-le-Bel ein und fotografierte die Mitgliederlisten, die er dem Computer entnahm. Es war ungefähr vier Uhr. Er fertigte Fotos von insgesamt 329 Mitgliedsdokumenten an.
Sara und Ronahî (Leyla Şaylemez) planten, am 9. Januar nach Köln zu fahren. Rojbîn reservierte am 8. Januar gegen 18 Uhr online Platzkarten. Sara und Ronahî sollten am 9. Januar in Porte de la Chapelle in den Zug nach Köln steigen. Ronahî war seit zwei Monaten in Frankreich.
Dreißig Sekunden am 9. Januar
Ronahî hatte die Nacht in Les Mureaux verbracht und kam am 9. Januar kurz nach elf Uhr im Kurdistan-Informationszentrum in der Nähe des Gare du Nord an. Sara war zu dieser Zeit auf dem Rückweg von der Post in Bobigny zum Informationszentrum. Die „Quelle“ folgte ihr. Sie waren zusammen ins Postamt gegangen, Ömer Güney war ihr bei der französischen Sprache behilflich. Beide kamen um ungefähr 11.30 Uhr im Informationszentrum an. Sara und Ronahî hatten nur noch wenig Zeit, sie mussten sich schnell fertig machen und losgehen. Güney verließ das Gebäude nach zwanzig Minuten um 11.49 Uhr. Rojbîn rief um 12.32 Uhr im KNK in Brüssel an, weil sie etwas für eine Übersetzung brauchte. Das war das letzte Telefonat, dass vom Informationszentrum aus geführt wurde.
„Quelle“ kehrte zu seinem Auto in einem unterirdischen Parkhaus zurück und öffnete den Kofferraum. Fünf Minuten später, um 12.05 Uhr, verließ er das Parkhaus und ging mit schnellen Schritten zum Informationszentrum. Dort kam er um 12.10 Uhr an. Wie er in das Gebäude gekommen ist, ist unklar. Es wird angenommen, dass er die Tür die geöffnet hat, ohne den Code zu benutzen. Möglicherweise hat er die Tür vorher offen gelassen. Nach dem Betreten des Gebäudes ging er nicht sofort nach oben. Das Büro befand sich im ersten Stock. Die Zwischentür musste mit einem Magnetschlüssel geöffnet werden.
Rojbîn verschickte um 12.20 Uhr eine SMS an den Besitzer des Autos, mit dem Sara und Ronahî zum Bahnhof gebracht werden sollten. Zwanzig Minuten später öffnete sie die Internetseite „Free Ocalan“.
„Quelle“ wartete unterdessen immer noch im Gebäudeeingang. Eine Frau aus dem dritten Stock ging an ihm vorbei und verließ das Haus. Während Sara und Ronahî sich auf ihre Abreise vorbereiteten, erschien er an der Tür. Zeit für Gegenwehr blieb ihnen nicht. Die Quelle stand hinter Sara und begann zu schießen. Er schoss erst Rojbîn und dann Ronahî in den Kopf. Die dritte Kugel traf Saras Kopf. Die Quelle hatte mit einem 7,65-Kaliber-Revolver drei kurdische Frauen ermordet. Zuletzt näherte er sich Rojbîn und schoss ihr in den Mund. Als er mit verhülltem Kopf das Gebäude verließ, war es 12.56 Uhr. Der Dreifachmord hat nur dreißig Sekunden gedauert. Die Quelle hielt sich 45 Minuten in dem Gebäude auf.
Ein unendlicher Tag
Die Telefone von Sara, Rojbîn und Ronahî klingelten den ganzen Tag. Der Festnetzanschluss im Informationsbüro wurde angerufen. Es wurden Nachrichten geschickt. Um 13.31 klingelte eine bekannte Person an der Tür, niemand antwortete. Die Person ging nach 45 Sekunden ohne irgendeinen Verdacht weiter. Um 20.30 Uhr herrschte bereits große Besorgnis. Um Mitternacht gingen eine Kurdin und ein Kurde in die Rue La Fayette Nr. 147 und betraten das Gebäude. Sie kannten den Türcode, aber für die Zwischentür war ein Magnetschlüssel erforderlich. Da im Informationsbüro niemand öffnete, klingelten sie bei den Nachbarn. Nur einer reagierte und drohte mit der Polizei. Eine Weile später kam eine dritte Person an. Es stellte sich heraus, dass sich die Tür durch etwas Druck öffnen ließ. Die drei Kurd*innen liefen sofort in die erste Etage und öffneten die Bürotür mit einem Schlüssel. Ihnen bot sich ein schreckliches Bild. Rojbîn lag neben Sara auf dem Rücken, ihre Knie waren angewinkelt. Sara lehnte mit dem Rücken am Fernseher. Neben ihnen lag ein kleiner Koffer. Ronahî war auf den Bauch gefallen, ihre Haare bedeckten ihr Gesicht. In den Räumlichkeiten sah es ordentlich aus, aber alles war voller Blut. Frauen aus drei Generationen waren an einer Stelle ermordet worden.
Als ANF die erste Meldung brachte, war es ungefähr 2.30 Uhr. Die Schockwelle breitete sich schnell aus. Vor dem Informationszentrum und dem kurdischen Verein trafen immer mehr Menschen ein.
„Quelle“ war inzwischen die Waffe und Saras Handtasche, die er mitgenommen hatte, losgeworden und hatte seine Kleidung gesäubert. Seinen Pass mit den türkischen Einreisestempeln versteckte er hinter dem Autoradio. Er war unter den ersten Personen, die am Tatort eintrafen.
Im Morgengrauen wusste die Mehrheit der Kurdinnen und Kurden von den Morden. Bei der Guerilla in den Bergen Kurdistans, in Europa, Afrika, Australien und Amerika, überall herrschte ein kollektiver Schockzustand. Die tiefe Trauer wurde innerhalb kurzer Zeit von Wut abgelöst. Die Menschenmenge in der Rue La Fayette wurde immer größer. Allen war klar, dass es sich um eine groß angelegte Provokation handelt. Unabhängig von den Stellungnahmen der betreffenden Behörden gab es bei den Kurden keinen Zweifel an der Täterschaft. Verantwortlich waren die Feinde der kurdischen Befreiungsbewegung, die sich gegen eine friedliche Lösung stellten und sich von Blut und Hass ernährten. Der Mörder war der türkische Staat. Das war für die Kurden von Anfang an Fakt.
Der damalige französische Innenminister Manuel Valls traf am 10. Januar um neun Uhr am Tatort ein und sagte, dass es sich „ohne jeden Zweifel“ um eine Hinrichtung handele. Er sprach von einem „nicht hinnehmbaren schweren Vorfall“. Staatspräsident François Hollande bezeichnete den Dreifachmord als „schrecklich“ und wies darauf hin, dass er Rojbîn persönlich kannte. Türkische und auch einige französische Quellen versuchten von dem offensichtlich politischen Mord abzulenken und ihn als „interne Abrechnung“ zu verkaufen. Diese Darstellung ging nicht auf.