8.000 Mitarbeiter, darunter mehrere hundert hauptamtliche Agenten. Kein anderer Nachrichtendienst ist so präsent in Deutschland wie der türkische MIT. Wer glaubt, das Agieren und Spionieren des MIT hierzulande sei der Bundesregierung verborgen geblieben, der irrt. Es hat eine lange Tradition, dass oppositionelle Türkeistämmige – an erster Stelle Kurden bzw. PKK-Sympathisanten, in den letzten Jahren auch Mitglieder der Gezi-Bewegung oder Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, in Deutschland vom MIT überwacht werden.
Warum die deutsche Bundesregierung zu wenig dagegen unternimmt und von der Türkei verfolgte Oppositionelle vor Bespitzelungen und Repressionen nicht schützt, dafür sieht der Weilheimer Geheimdienstexperte und Friedensforscher Erich Schmidt-Eenboom (67) zwei Gründe. Einerseits gehe es um die Balance-Politik von Präsident Erdogan zwischen Russland und der NATO, sagt Schmidt-Eenboom. Die Bundesregierung wolle alles daransetzen, dass die Türkei NATO-Mitglied bleibt, und zwar enges NATO-Mitglied. „Das zweite ist die ständige Drohung Erdogans, die Schleusen für Flüchtlinge wieder zu öffnen. Die Bundeskanzlerin befürchtet, dass in diesem Fall eine größere Flüchtlingskrise - auch verbunden mit der Corona-Krise - auftreten könnte, die sie politisch nicht bewältigen kann. Darum duldet die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre eigene verfassungsmäßige Verpflichtung die illegalen Aktivitäten des MIT auf deutschem Boden.“
Im Interview mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika äußerte sich Erich Schmidt-Eenboom detailliert über die Zusammenarbeit und den engen Informationsaustausch zwischen MIT und BND, das vom türkischen Geheimdienst in Deutschland aufgebaute Spitzelsystem, wie man es sonst nur von Nachrichtendiensten autokratischer Regimes kennt, über die Organisierung türkischer Geheimdienstler und ihrer Informanten, die vom MIT in Auftrag gegebenen Morde von Paris, bei denen die kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan im Januar 2013 hingerichtet wurden, und darüber, warum er politische Morde des MIT in Deutschland ausschließt. Das Gespräch führte Veysel Isik.
Seit wann pflegen der türkische Geheimdienst MIT und der BND als Auslandsnachrichtendienst Deutschlands Kontakte miteinander?
Die enge Kooperation zwischen dem türkischen und deutschen Nachrichtendienst setzte Anfang der 1960er Jahre ein. Und sie war zunächst überwiegend technischer Natur. Das heißt, BND-Mitarbeiter waren in einer Aufklärungsstation im türkischen Samsun, die die Aufgabe hatte, Fernmeldeaufklärung in die Tiefe der Sowjetunion zu betreiben. Zugleich gab es immer einen massiven Informationsaustausch, bei dem der Bundesnachrichtendienst den türkischen Geheimdienst mit globalen Informationen versehen hat und der türkische Geheimdienst dafür Informationen aus den unmittelbar angrenzenden Ländern gab. Wir haben bei der türkischen Invasion 1976 in Zypern erlebt, dass die CIA zum Beispiel alle nachrichtendienstlichen Kontakte zum MIT abbrach, der Bundesnachrichtendienst jedoch seinem türkischen Partner treu blieb. Von 1981 bis 1988, zu Zeiten der türkischen Militärdiktatur, gab es einen BND-Residenten namens Keßelring, später Vizepräsident des BND, der dafür gesorgt hatte, dass die türkischen Nachrichtendienste Überwachungs- und Speicherungstechnik aus der Bundesrepublik Deutschland bekommen haben.
Ist der BND über die Organisierung des MIT in Deutschland in Kenntnis?
Der Bundesnachrichtendienst ist für Auslandsaufklärung zuständig. Das heißt, er ist nicht darüber unterrichtet, was der MIT in der Bundesrepublik Deutschland tut. Er kennt aber seine Ansprechpartner, die hauptamtlichen Residenten des MIT, die sowohl in der Botschaft in Berlin sitzen als auch in verschiedenen Generalkonsulaten, darunter in München. Für die Aufklärung der Aktivitäten des MIT in der Bundesrepublik ist das Bundesamt für Verfassungsschutz zuständig, aber natürlich auch die verschiedenen Landesämter, die allerdings nicht die Kapazitäten haben, um diese weit gefächerten Spitzel-Aktivitäten ins Visier zu nehmen.
Über wie viele Mitarbeiter verfügt der MIT in Deutschland und wo sind diese organisiert?
Man weiß es nur ungefähr. Erdogan hat den MIT finanziell und personell auf 8.000 Mitarbeiter massiv aufgestockt. Früher waren im MIT bis zu 75 Prozent Soldaten beschäftigt, heute sind es gerade noch fünf Prozent. Das heißt, Erdogan hat den Dienst umgekrempelt - von einem Nachrichtendienst des Militärs zu einem Nachrichtendienst zur Überwachung für das Militär. Zehn Prozent der 8.000 Mitarbeiter sind zuständig für den deutschsprachigen Raum, also die Bundesrepublik Deutschland, Schweiz und Österreich. Der absolute Schwerpunkt liegt natürlich in Deutschland mit über drei Millionen türkischstämmigen Menschen in unserem Land.
Erich Schmidt-Eenboom | © Veysel Isik
Was die Präsenz des MIT in der Bundesrepublik betrifft, so haben wir an der Spitze einen Residenten, eingebunden in die türkische Botschaft in Berlin, und weitere zwölf hauptamtliche Mitarbeiter in verschiedenen Konsulaten. Und das sind alles Mitarbeiter, die in Kontakt mit den deutschen Sicherheitsbehörden stehen und denen bekannt sind. Darüber hinaus gibt es ein weit gefächertes Netzwerk von illegalen Residenten. Das sind hauptamtliche MIT-Mitarbeiter, die zum Beispiel in Tarnfirmen sitzen, die in der Schweiz, Österreich und Süddeutschland länderübergreifend agieren. Das dürften mehrere hundert Mitarbeiter sein, die wiederum eine Vielzahl von bewussten Agenten führen. Sie sind untergebracht in türkischen Reisebüros, in Banken und dergleichen, um Informationen zu sammeln. Darüber hinaus gibt es natürlich unwissentliche Zuträger des türkischen Nachrichtendienstes, die abgeschöpft werden von ihren Nachbarn, von Imamen und dergleichen. Und wir haben in letzter Zeit die Entwicklung, dass es sogar eine vom Generalkonsulat in München entwickelte App gibt, mit der türkische Mitbürger andere Türken denunzieren können, so dass wir insgesamt von einer Holding von Agenten, Zuträgern und Informanten von mehreren tausend Spitzeln der Türken in der Bundesrepublik Deutschland ausgehen müssen.
Warum organisiert sich der MIT in Deutschland? Was für Ziele werden verfolgt?
Den türkischen Nachrichtendiensten liegt schon immer daran, in der großen türkischen Community in der Bundesrepublik Oppositionelle zu überwachen. Das war in den 70er und 80er Jahren naturgemäß der größte Gegner - die bei uns als terroristisch eingestufte PKK. Unter Erdogan ist ein ganz großer, zusätzlicher Schub zu verzeichnen. Das beginnt damit, dass auch die Unterstützer der Proteste im Gezi-Park ins Visier des MIT rückten. Nach dem Pseudoputsch in der Türkei sind es nun auch alle Gülen-Anhänger und jede Person türkischer Herkunft in der Bundesrepublik Deutschland, die sich in irgendeiner Weise oppositionell zu Erdogan verhält.
Warum Pseudoputsch?
Die westlichen Nachrichtendienste, sowohl das CIA als auch der BND, gehen davon aus, dass der Putsch im Jahr 2016 von Erdogan selbst provoziert worden ist, um Reste von Widerstand im kemalistischen Militär auszuschalten. Er erwartete Widerstand beim fortgesetzten Umbau dieser Streitkräfte und hat diesen Putsch dann quasi provoziert, um damit seinem Ziel einer islamistischen Republik Türkei bis 2023 näher zu kommen.
Was für Beziehungen pflegt der BND mit dem türkischen Geheimdienst?
Wir haben in Berlin ein gemeinsames Terrorismus-Abwehrzentrum, wo 32 deutsche Sicherheitsbehörden vertreten sind. Die tauschen natürlich untereinander Informationen aus, so dass der Verfassungsschutz auch da berichtet, was er an türkischen Aktivitäten nachrichtendienstlicher Natur in der Bundesrepublik feststellt. Aber unser Verfassungsschutz ist zu klein und hat zu viele andere prioritäre Aufgaben - Stichwort internationaler Terrorismus, neuerdings Rechtsterrorismus, Spionageabwehr, Schutz der Wirtschaft - so dass seine Kapazitäten kaum ausreichen, die umfangreichen türkischen nachrichtendienstlichen Aktivitäten in der Bundesrepublik gezielt unter Kontrolle zu nehmen.
Wie wird Deutschland angesichts dieser Situation Kurden aus der Türkei und Angehörige anderer oppositioneller Gruppen, die hier leben, vor diesem Geheimdienstnetzwerk schützen?
Die Bundesrepublik Deutschland wäre verpflichtet, alle hier lebenden Menschen - auch Ausländer - vor nachrichtendienstlichen Nachstellungen zu schützen. Sie tut das nicht, obwohl sie im Kern weiß, was der türkische Nachrichtendienst in der Bundesrepublik alles veranstaltet. Und das hat vor allem zwei Gründe.
Erstens: Wir erleben seit Jahren eine Balance-Politik von Erdogan zwischen Russland und der NATO. Die Bundesregierung will alles daransetzen, dass die Türkei NATO-Mitglied bleibt, und zwar enges NATO-Mitglied.
Der zweite ist die ständige Drohung Erdogans, die Schleusen für Flüchtlinge wieder zu öffnen. Die Bundeskanzlerin befürchtet, dass in diesem Fall eine größere Flüchtlingskrise - auch verbunden mit der Corona-Krise - auftreten könnte, die sie politisch nicht bewältigen kann. Darum duldet die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre eigene verfassungsmäßige Verpflichtung die illegalen Aktivitäten des MIT auf deutschem Boden.
Wen überwacht der MIT in Deutschland?
Der MIT überwacht insbesondere die kurdische Bevölkerung in der Bundesrepublik, weil er in diesen kurdischen Kreisen PKK-Anhänger vermutet. Aber er nimmt auch jeden kleinsten Hinweis zum Anlass, Leute unter PKK-Verdacht zu stellen, die gar keine PKK-Anhänger sind. Es gibt vom deutschen Verfassungsschutz die Verfolgung der PKK, es gibt auch Verurteilungen von PKK-Anhängern in der Bundesrepublik Deutschland. Aber das reicht der Türkei nicht. Die Türkei geht weit über den nachrichtendienstlichen Austausch mit dem Verfassungsschutz hinaus und sammelt eigene Erkenntnisse. Und das ist eine illegale nachrichtendienstliche Tätigkeit auf dem Boden unserer Republik.
Es gibt natürlich viele „Residenturen“, wie man das bei Nachrichtendiensten nennt. Einmal sind es die legalen Residenturen, das heißt die Mitarbeiter sitzen in den Konsulaten, aber auch in AKP-nahen Propagandavereinen. Sie steuern die jetzt verbotene, vormals existierende Gruppe der Rocker Osmanen Germania, haben Einfluss auf die DITIB-Moscheen, über die Religionsbehörde. Wir haben über 900 Imame in der Bundesrepublik, und ein Großteil von ihnen folgt den Aufrufen der türkischen Regierung, Informationen über Erdogan-kritische Mitbürger zu sammeln. 2017 wurden die Verfahren gegen einige Ertappte eingestellt. Das aber auch nur, weil sie sich der Strafverfolgung rechtzeitig entzogen haben.
Ein normaler türkischer Mitbürger kann sich kaum vor den Nachstellungen des MIT schützen, wenn zum Beispiel ein böswilliger Nachbar ihn über diese App denunziert. Ahnt er nichts davon und reist in die Türkei zu Verwandten, dann kann er allein aufgrund dieser völlig grundlosen Denunziation im türkischen Gefängnis landen. Es wäre die Aufgabe des Staates bei uns, die türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger davor zu schützen. Der Einzelne ist da relativ machtlos, es sei denn, er hält sich mit politischen Äußerungen vollständig zurück, wagt kein Erdogan-kritisches Wort. Und das gehört natürlich auch zur Strategie des MIT, ein solches Klima der Angst zu verbreiten, damit sich niemand traut, in der Bundesrepublik offen politisch gegen Erdogan zu argumentieren.
Warum drückt Deutschland gegenüber dieser parallelen Geheimdienststruktur ein Auge zu? Was für ein gegenseitiges Interesse besteht hierbei?
Während dieser Tage habe ich gehört, dass die russische Föderation mit 200 hauptamtlichen Agenten in der Bundesrepublik sehr aktiv ist, aber unser Verfassungsschutz weiß, dass die Anzahl der MIT-Mitarbeiter noch deutlich größer ist. Auch da gibt es nur Schätzungen, weil die Observationskapazitäten und die Abhörkapazitäten nicht ausreichen, um da jedem Verdachtsfall nachzugehen. Der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herr Maaßen, hat die Türkei lange als befreundeten Nachrichtendienst bezeichnet. Längst waren diese Aktivitäten schon bekannt, da hielt er den Dienst für einen problematischen Partner - aber immer noch einen Partner. Aber inzwischen sind die Verfassungsschutzbehörden so weit zu sagen, dass der türkische Nachrichtendienst eher in die Kategorie nachrichtendienstlicher Gegner gehört. Das wurde besonders evident, als der MIT versucht hat, bei den Neueinstellungen im Bundesamt für Verfassungsschutz dort einen Doppel-Agenten zu platzieren. Das macht man nicht bei befreundeten Nachrichtendiensten, das macht man nur bei gegnerischen Nachrichtendiensten.
Und dann erleben wir natürlich, dass Dolmetscher bei Asylverfahren vom BAMF instrumentalisiert werden. Aber auch das ist nichts neues, denn wir wissen schon aus den 80er Jahren, dass bei Asylanträgen von Kurden Dolmetscher eingesetzt worden waren, die anschließend dem türkischen Nachrichtendienst die Asylbegründung geliefert haben und die Kurden damit in der Türkei der Strafverfolgung ausgesetzt haben. In den 80er Jahren hat das deutsche Nachrichtenwesen, sowohl BND als auch Verfassungsschutz, noch Informationen an die Türken weitergegeben. Aber wir erleben seit 2016, dass auch das Verhältnis zwischen BND und MIT zunehmend kritischer wird. Das liegt daran, dass 2016 die türkischen Nachrichtendienste den sogenannten Islamischen Staat (IS) massiv unterstützt haben. Eine Studie des deutschen Bundestages spricht von einer „Dschihadisten-Autobahn“, das heißt, dass islamistische Kämpfer aus Libyen und anderen Staaten vom türkischen Nachrichtendienst zum IS kanalisiert wurden. Wir haben auch erlebt, dass eine Vielzahl von radikalisierten jungen Deutschen zum IS gestoßen ist, auch diese überwiegend über den Weg der Türkei. Und wenn der Bundesnachrichtendienst dann bei seinen Partnern in Ankara nachgefragt hat, da ist jemand geflogen, von Frankfurt nach Ankara und anschließend abgetaucht, wir vermuten, er geht zum IS, dann gab es früher eine Antwort des türkischen Nachrichtendienstes. Seit 2016 hat sich die Türkei geweigert, solche Reiseweg-Nachfragen zu beantworten, weil sie fest an der Seite des IS stand. Und das hat natürlich das nachrichtendienstliche Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Türkei schwer belastet.
Wie viele deutsche IS-Rückkehrer gibt es?
Es gibt die zurückgekehrten Kämpfer, wir erwarten aber immer noch aus den kurdischen Lagern weitere IS-Kämpfer. Wie groß die Sympathisanten-Szene ist, wissen wir aus dem Verfassungsschutzbericht. Das sind wohl mehrere hundert, fast tausend Leute. Jetzt, wo der IS weitestgehend zerschlagen ist, gibt es zwei Kategorien: Zurückgekehrte IS-Kämpfer, die „rehabilitiert“ sind von diesem Irrsinn, und andere, die auch der Verfassungsschutz und die Sicherheitsbehörden immer noch als tickende Zeitbomben einschätzen.
Der MIT-Agent Mehmet Fatih Sayan hat Kurden in Deutschland wie Yüksel Koç und Sevahir Bayındır ganz offen gedroht. Das führt die Ziele des MIT in Deutschland klar vor Augen. Was sagen Sie zu diesen Aktivitäten des MIT gegen Kurden in Deutschland?
Der MIT ist in 92 Staaten aktiv, um Oppositionelle auszuforschen. Und in manchen Staaten traut er sich sogar, politische Morde zu verüben oder Entführungen, insbesondere von Gülen-Anhängern, vorzunehmen. Wir wissen aus der Bundesrepublik, dass es in den Jahren 2017 und 2018 Mordpläne gegen kurdische Politiker in Bremen gab. Wir hören aus einem Interview im ZDF, dass jemand beauftragt wurde, Entführungsoptionen für Hunderttausend Euro ins Werk zu setzen. Aber ich denke, dass die Bundesregierung der türkischen Regierung sehr deutlich gemacht hat, dass bei einem Mord in Deutschland oder der Entführung eines Gülen-Anhängers eine rote Linie überschritten wäre. Denn dann wäre die Bundesrepublik gezwungen, mindestens ein Dutzend hauptamtliche türkische Nachrichtendienstler als „Persona non grata“ auszuweisen und die türkischen Aktivitäten in Zukunft sehr viel intensiver ins Visier zu nehmen. Das wollen beide Seiten nicht, also wird der MIT weiterhin durch Entführungen im Kosovo und Albanien, in asiatischen Staaten versuchen, ein Klima der Angst aufrecht zu erhalten. Aber dass es zu einem konkreten Mord in Deutschland kommt, das halte ich für ausgeschlossen.
Können Sie das so deutlich ausschließen?
Ja. Ich denke, da wäre wirklich eine rote Linie überschritten, wenn der MIT in ähnlicher Weise wie die russischen Nachrichtendienste einen politischen Mord in Deutschland durchführen würde. Man würde die Täterschaft zweifelsfrei feststellen. Dann wäre die Bundeskanzlerin gezwungen, ganz massive politische Gegenmaßnahmen zu ergreifen und das natürlich nicht nur allein, sondern im Verbund mit anderen europäischen Staaten. Denn wir haben ja erlebt, zum Beispiel, als es einen russischen Mord in Großbritannien gab, dass dann der Verbund der Europäer insgesamt 128 russische Diplomaten ausgewiesen hat. Bei einem türkischen Mord - einem nachrichtendienstlichen Mord - in Deutschland wäre mit einer ähnlich harschen Reaktion der europäischen Staaten zu rechnen. Ich gehe davon aus, dass die Solidarität Frankreichs, Großbritanniens, der Niederlande dann so weit reichen würde, dass man einen ganz großen Teil bekannter MIT-Mitarbeiter aus Europa verbannen würde.
In einem Bericht des deutschen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2018 wird dokumentiert, dass die Türkei der Staat mit den meisten Spionageaktivitäten sei. In eine Vielzahl von deutschen Institutionen seien über 100 Personen eingeschleust worden. Ist dies eine Gefahr für Deutschland?
Wenn man diese große Zahl von 8.000 ins Auge fasst, dann umfasst das diese ganze Pyramide. An der Spitze die dreizehn hauptamtlichen Mitarbeiter, darunter mehrere hundert hauptamtliche Agentenführer, mehrere hundert bis mehrere tausend eingewiesene Agenten, die vorsätzlich für den MIT arbeiten, dazu kommt dann die Vielzahl von Zuträgern, die einfach abgeschafft werden, dazu kommen dann die Imame, die ihre Informationen liefern und nicht zuletzt diejenigen, die die Spitzel-App benutzen, um Mitbürger zu denunzieren. Und dieses ganze System ist so umfangreich, wie wir es eigentlich nur aus Stasi-Zeiten in der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik kennen.
Da wird immer so getan, als wisse man es nicht so genau, wie viele MIT-Mitarbeiter, wie viele Spitzel und Agenten es gibt, dabei gibt es durchaus konkrete Schätzungen des Verfassungsschutzes. Aber um das deutsch-türkische Verhältnis nicht zu belasten, will die Bundesregierung mit diesen Zahlen nicht an die Öffentlichkeit.
Es wurde aufgedeckt, dass der Attentäter der Morde an den drei kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris für den MIT gearbeitet hat und mehrere Male nach Ankara gereist ist. Zwei von der PKK festgenommene MIT-Agenten sagten aus, dass Erdogan persönlich den Befehl erteilt habe.
Ein niederländischer Kollege von mir konnte in Paris die Anklageschrift der französischen Staatsanwaltschaft in diesem Fall einsehen, nachdem der Hauptattentäter in der Haft gestorben war. Und aus diesem Papier geht hervor, dass französische Polizeikräfte und der französische Nachrichtendienst eindeutig nachweisen konnten, dass es sich um einen politischen Mord - ausgeführt vom MIT und geduldet von Erdogan - gehandelt haben muss. Wenn ich mir dann das Interview der beiden gefassten MIT-Mitarbeiter anschaue, dann sehe ich an der Präzision der Aussagen, Tathergang, involvierte Personen und dergleichen, dass sie absolut die Wahrheit berichten.
Worauf stützen Sie die Aussage, dass Erdogan diesen Mord in Auftrag gegeben hat?
Bei allen Nachrichtendiensten, die nachrichtendienstliche Morde begehen, beispielsweise bei den Drohnenangriffen der CIA in Afghanistan, den Morden Russlands in der Bundesrepublik und in England und denen des Mossad überall auf der Welt, wissen wir genau, es gibt eine eiserne Regel: Jeder nachrichtendienstliche Mord muss durch das Staatsoberhaupt genehmigt werden. Und genauso verhält es sich in der Türkei. Hakan Fidan als Geheimdienstchef kann nicht aus eigener Kraft entscheiden, wegen der politischen Verwicklung, wo politische Morde begangen werden. Das ist die alleinige Entscheidung eines Staatschefs. Das heißt, für politische Morde und Entführungen des MIT muss man Erdogan persönlich verantwortlich machen.
Trotz dieser Morde des MIT mitten in Europa schaut eine Vielzahl von Ländern, vor allem Frankreich und Deutschland, tatenlos zu. Warum gibt es keine Sanktionen von europäischen Staaten gegen die Türkei?
Die Europäer haben politische Rücksicht genommen, da sie immer noch die Hoffnung hatten, dass es in der Türkei einen normalen demokratischen Prozess gibt und Erdogan ein gewählter demokratischer Führer ist. Bis zu dem Pseudoputsch 2016 und das, was er dann an politischer Zielsetzung verlautbart hat, nämlich der Umbau der Türkei zu einer islamischen Republik, gab es in Europa viele Stimmen, die gemeint haben, man müsse mit der Türkei eng zusammenarbeiten. Durch die enge Zusammenarbeit würden sich die Verhältnisse in der Türkei bessern, man müsse die Türkei nur eng an der NATO halten. Aber all das erweist sich inzwischen als Irrtum. Ich denke es wäre an der Zeit, der Türkei ganz deutlich zu machen, dass mit dem jetzigen Regime, dem jetzigen nachrichtendienstlichen Verhalten, absolut kein Platz in der europäischen Union ist.
Wie ist die immer noch bestehende Listung der PKK in der „Terrorliste“ zu bewerten?
Wir haben ja auch in der Schweiz die Situation, dass die PKK da nicht als terroristische Organisation eingestuft wird, ebenso wenig in Luxemburg. Ich denke die Bundesregierung wird sich scheuen, diese Einstufung zurückzunehmen, weil Erdogan das als deutliche Kampfansage der Berliner Politik begreifen würde. Das heißt, dass man sehr wohl weiß, dass es hier keine terroristischen Aktivitäten der PKK gibt, vor allem keine verbotenen Aktivitäten auf deutschem Boden. Aber man scheut sich das öffentlich zu machen, diesen Stempel von der PKK weg zu nehmen, weil man damit natürlich die Konfliktlage mit Ankara nachhaltig verschärfen würde.