Das Erdoğan-Regime hat in den letzten Monaten seine Flüchtlingspolitik massiv verschärft. So wurden immer mehr Schutzsuchende teilweise mit Gewalt dazu gezwungen, ihre „freiwillige“ Ausreise nach Syrien zu unterzeichnen. Gerry Simpson, stellvertretender Direktor der Abteilung für Krisengebiete der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), sagte zu dieser Praxis: „Die Türkei behauptet, Syrern dabei zu helfen, freiwillig in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Tatsächlich drohen die Behörden damit, sie einzusperren, wenn sie nicht zurückgehen wollen. Sie werden gezwungen, Formulare zu unterschreiben, und in ein Kriegsgebiet verfrachtet – das ist weder freiwillig noch rechtmäßig.“
Die Betroffenen wurden in das Al-Qaida-Emirat Idlib oder nach Efrîn deportiert. Mit der Besetzung eines Streifens zwischen Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) haben die türkischen Deportations- und Umsiedlungspläne eine neue Qualität bekommen. Der türkische Regimechef Erdoğan hatte offen angekündigt, Millionen von Schutzsuchenden in der Region anzusiedeln. Die ursprüngliche kurdische, aber auch die Suryoye und arabische Bevölkerung sind aus dem Streifen vertrieben worden. Mit massiven Angriffen versucht die Türkei, ihr besetztes Gebiet weiter auszudehnen. Andererseits setzt das Regime die Schutzsuchenden als Mittel der Erpressung gegen die EU ein. So konnte der Regimechef sowohl seinen Profit aus dem Flüchtlingsdeal steigern, als auch einen Angriffskrieg auf Nordsyrien ohne größere Konsequenzen durchsetzen. Vor diesem Hintergrund stellte die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, zwei Anfragen, deren Antworten jetzt vorliegen.
Abschiebungen im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens
Das EU-Türkei-Abkommen sieht vor, dass Schutzsuchende, die aus der Türkei auf den griechischen Inseln ankommen, nach einer formalen Prüfung, ob sie einen Asylantrag stellen dürfen, in die Türkei zurückgeschoben werden. Nur Minderjährige, Schwangere, Alleinerziehende mit Kindern, alte Menschen u.a. werden von Abschiebungen ausgenommen. Zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni gab es 79 „Rückführungen“ im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens. Zusätzlich sind 334 Menschen „freiwillig“ in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt. Von Freiwilligkeit kann hier aber keine Rede sein, denn wie Ulla Jelpke sagt: „Wenn das Leben im Hotspot ebenso schrecklich und bedrohlich ist wie im Herkunftsland, dann ist die unterstellte ‚Freiwilligkeit‘ der Ausreise eine Farce.“ Mindestens 417 Menschen sitzen in den Abschiebebereichen der Hotspots und warten auf ihre Abschiebung in die Türkei. Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens am 18. März 2016 wurden auf diesem Wege 1885 Personen in die Türkei abgeschoben. Frappierend ist die Tatsache, dass 45 Prozent der Abgeschobenen keinen Asylantrag gestellt haben. Jelpke analysiert: „Es ist alarmierend, dass 45 Prozent der Abgeschobenen keinen Asylantrag gestellt haben. Das deutet auf eine willkürliche Informationspolitik der Behörden hin. Es muss hinterfragt werden, ob diese 45 Prozent überhaupt das Wissen um ihre Rechte und die Gelegenheit hatten, einen solchen Antrag kundzutun. Der EU-Türkei-Deal betrifft vor allem Schutzsuchende aus Syrien, daher ist diese hohe Rate an Abgeschobenen, die angeblich kein Asylersuchen gestellt haben, mehr als bedenklich.“
Angesichts der Ankündigung der griechischen Regierung, bis zum nächsten Jahr 10.000 Schutzsuchende in die Türkei abzuschieben, erklärt die Linkspolitikerin: „Mindestens 417 Menschen warten in Gefängnissen in griechischen Hotspots auf ihre Abschiebung in die Türkei. Das ist eine Schande. Und es wird noch schlimmer, denn die griechische Regierung plant zehntausend Menschen innerhalb eines Jahres in das türkische Willkürregime abzuschieben. Die Menschen finden in der Türkei keinen Schutz, sondern Repression und Weiterschiebung in Kriegsgebiete.“
Mehr Geld für das Regime
Das Erdoğan-Regime erhält in der zweiten Tranche der Zahlungen im Rahmen des EU-Türkei-Deal mehr Geld. Auf Druck von Ankara wurden außerdem die Bedingungen für die Freigabe der Gelder derart geändert, dass mehrere europäische sowie UN-Organisationen leer ausgehen, die türkische Regierung aber profitiert. Die Bundesregierung gibt an, mit der zweiten Tranche bereits 955 Millionen Euro in Entwicklungsprojekte der türkischen Ministerien für Soziales, Familien- und Gesundheit „investiert“ zu haben. Dabei fließen angeblich Gelder in Infrastrukturmaßnahmen, unter anderem in den Bildungsbereich. Eine Kontrolle, wofür die Gelder ausgegeben werden, ist praktisch nicht möglich. Jelpke kommentiert: „Die EU muss endlich die Zahlungen an die AKP-Diktatur einstellen. Jeder Cent an die Türkei, egal wofür er von der Regierung eingesetzt wird, stabilisiert das Regime und stärkt die Kriegstreiber in Ankara.“ Dass diese Zahlungen auf Druck des Regimes stattfinden, hat die Bundesregierung indirekt eingeräumt, wenn sie schreibt, man sei dem „Wunsch nach Übernahme von mehr Eigenverantwortung vor allem mit Blick auf die Wahrnehmung der Aufgaben nach Auslaufen der EU-Förderung“ durch die türkische Regierung nachgekommen. Jelpke dazu: „Wenn das Erdoğan-Regime mit dem Durchwinken von Schutzsuchenden droht, dann macht die EU Zugeständnisse, dieses Einknicken kann die Bundesregierung noch so schön paraphrasieren. Sie lässt sich durch den EU-Türkei-Deal erpressen.“
Hilfe für AKP-Diktatur unter dem Deckmantel des Aufbaus ziviler Infrastruktur
Besonders zynisch ist, dass ein Großteil der Gelder für den Aufbau kommunaler Infrastruktur investiert werden soll. Da das Erdoğan-Regime mit seinem System der Zwangsverwaltung Kommunalpolitik als politische und vor allem ökonomische Waffe gegen die demokratische Opposition insbesondere in Nordkurdistan einsetzt, handelt es sich hier um eine direkte Stabilisierungshilfe für das Regime. Die Abgeordnete kommentiert: „Das türkische Regime nutzt insbesondere die Verteilung kommunaler Mittel als politisches Druckmittel gegen missliebige Stadtverwaltungen. Es wurden 24 gewählte Kommunalverwaltungen der oppositionellen HDP in den kurdischen Landesteilen durch Zwangsverwalter des Erdoğan-Regimes ersetzt. Das AKP-Regime wird diese Zahlungen nutzen, um die Gelder allein nach ihren politischen Interessen zu verteilen. Das ist keine Hilfe für Kommunen, sondern für die AKP-Diktatur.“
Bundesregierung verfügt über keine eigenen Erkenntnisse zur Flüchtlingssituation
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Situation der Schutzsuchenden in der Türkei. Die Bundesregierung hat keinerlei eigene Kenntnisse über die Lage der in die Türkei abgeschobenen Schutzsuchenden und hat offenbar auch keinerlei Bemühungen in diese Richtung unternommen.
Zynische Behauptung der Bundesregierung über die Situation von Schutzsuchenden
In ihrer Antwort gibt die Bundesregierung an, dass weniger als zwei Prozent der Schutzsuchenden in der Türkei in Flüchtlingslagern untergebracht sind. Soweit korrekt, anschließend versteigt sie sich aber zu der Aussage, die anderen lebten in Unterkünften, die sie auf dem freien Wohnungsmarkt anmieten würden. So verschweigt die Bundesregierung ganz offensichtlich die hohe Obdachlosigkeit von Schutzsuchenden in der Türkei. Jelpke kommentiert: „Die Bundesregierung geht hier offensichtlich nach dem Prinzip ‚aus den Augen, aus dem Sinn‘ vor. Sie hat keine Kenntnisse darüber, was mit in die Türkei abgeschobenen Schutzsuchenden geschieht. An Dreistigkeit kaum zu überbieten ist angesichts der Obdachlosigkeit vieler Schutzsuchender in der Türkei die Aussage der Bundesregierung, 98 Prozent der Flüchtlinge lebten in Unterkünften, die sie auf dem freien Wohnungsmarkt anmieteten. Das Erdoğan-Regime prahlt damit, 3,6 Millionen Schutzsuchende zu versorgen. In Wirklichkeit sind viele von ihnen obdachlos. Nur zwei Prozent leben in Flüchtlingslagern, während die übrigen kaum Zugang zu medizinischer Versorgung haben und viele Familien auf Kinderarbeit angewiesen sind, um in der Türkei überhaupt überleben zu können. Es ist absurd, dass die Bundesregierung die angebliche Leistung der Erdoğan-Regierung bei der Versorgung von Schutzsuchenden immer wieder lobt. Sie sind für die Diktatur am Bosporus nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Anders sind die Drohungen des Diktators gegenüber der EU nicht zu verstehen.“
Erzwungene „freiwillige“ Ausreise aus der Türkei nach Syrien
Auch über die erzwungene „freiwillige Ausreise" will die Bundesregierung keinerlei eigene Kenntnisse haben. Nach UNHCR-Angaben wurden 79.393 Personen bei ihrer Rückkehr aus der Türkei nach Syrien unterstützt. Der UNHCR stehe in Kontakt mit türkischen Behörden, um Vorwürfe unfreiwilliger Ausreisen aufzuklären. Die Bundesregierung trete mit Nachdruck dafür ein, dass entsprechend der UNHCR-Kriterien die Zivilbevölkerung geschützt wird. Jelpke bezeichnet diese Behauptung als „einen schlechten Witz“ und erklärt weiter: „Es liegen Meldungen von erzwungenen Massenabschiebungen in türkisch besetzte Gebiete oder in das Al-Qaida-Emirat Idlib in Nordsyrien vor. Die Antwort darauf muss sein, endlich Sanktionen gegen das Erdoğan-Regime zu verhängen, den schmutzigen EU-Türkei-Deal ein für alle Mal aufzukündigen und die Abschiebungen in die Diktatur am Bosporus einzustellen. Den Menschen, deren Leben durch Abschiebungen ins Kriegsland Syrien auch aufgrund der Ignoranz der Bundesregierung in Gefahr ist, helfen keine Lippenbekenntnisse.“
Aufrüstung der östlichen Grenzen der Türkei mit EU-Mitteln
Nach Angaben der Bundesregierung werden Mittel aus den EU-Heranführungshilfen für die Aufrüstung der türkischen südöstlichen Grenzen verwendet. Die Türkei hat Mauern zum Irak, Iran und nach Syrien errichtet. Sie misshandelt und tötet an dieser Grenze regelmäßig Flüchtlinge, Hirten und Grenzhändler und errichtet riesige Militärbasen zur Besetzung Kurdistans. Die Bundesregierung finanziert damit direkt den Krieg und die Besatzung in Nordkurdistan.
Ulla Jelpke erklärt dazu: „Die EU finanziert die Befestigung einer der mörderischsten Grenzen der Welt. Während Dschihadisten frei über die Grenze nach Nordsyrien spazieren können und die Bevölkerung dort terrorisieren, werden immer wieder Flüchtlinge, Grenzhändler oder Hirten an der Grenze erschossen oder von türkischem Militär aufgegriffen und gefoltert. Dass die EU dieses verbrecherische Grenzregime unterstützt, ist eine Bankrotterklärung. So finanziert sie die neoosmanischen Träume des türkischen Despoten.“
Bundesregierung kann nicht beurteilen, ob Efrîn besetzt ist
Regelrecht absurd wird die Bundesregierung mit ihrer Aussage, ihr fehle die „Faktenkenntnis“, ob in Efrîn eine Besatzung besteht oder nicht. Jelpke dazu: „Wenn ein Land in ein anderes einfällt, Militärbasen errichtet und eine von ihm kontrollierte Schreckensherrschaft durch verbündete Milizen errichtet, dann ist das nichts anderes als eine Besatzung. Die Bundesregierung will sich wohl deshalb nicht festlegen, da sie sonst Konsequenzen ziehen müsste. Wenn der Bundesregierung hier Fakten fehlen, dann ist sie entweder ignorant oder inkompetent.“
Sicherheitslage in Syrien lässt keine Rückkehr zu
Zumindest schließt sich die Bundesregierung der Haltung des UNHCR an, dass „die Sicherheitslage in Syrien keine Rückkehr syrischer Flüchtlinge in Sicherheit und Würde“ zulasse und Schutzsuchende auch nicht zur „gezielten Veränderung der demographischen Struktur“ benutzt werden dürften. Das lobt auch Ulla Jelpke und fordert Konsequenzen: „Die Abschiebungen im Rahmen des EU-Türkei-Deals müssen sofort eingestellt werden, denn den dorthin abgeschobenen Schutzsuchenden droht die Weiterschiebung ins Kriegsgebiet nach Syrien. Wenn die Bundesregierung ihre eigenen Worte ernst nehmen würde, dann müsste sie ihre Zusammenarbeit mit dem AKP-Regime endlich aufkündigen. Denn Erdoğan hat offen erklärt, Millionen von Schutzsuchenden im besetzten Nordsyrien anzusiedeln. Damit will er gezielt die Demographie verändern und insbesondere die christliche und kurdische Bevölkerung vertreiben.“
317.932 Euro für türkeinahes „Europäisches Zentrum für kurdische Studien“
Die Bundesregierung unterstützt 2019 die Vereinigung „Europäisches Zentrum für kurdische Studien“ (EZKS) mit 317.000 Euro „für die Stärkung syrischer Minderheiten in der syrischen Opposition im Rahmen der politischen Verhandlungen unter der Ägide der Vereinten Nationen“. Das ist besonders zynisch in Anbetracht der Tatsache, dass die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, die auch die überwältigende Mehrheit der Kurden repräsentiert, ausgeschlossen bleibt, während die Bundesregierung Hunderttausende Euro in eine dem türkischen Regime nahestehende Kleinstorganisation pumpt. Jelpke sagt: „Hier deckt sich die Haltung der Bundesregierung mit der Erdoğans: eine Selbstverwaltung der Menschen in Nordsyrien wird weder geduldet noch anerkannt.“
Die Köpfe des EZKS treten nahezu regelmäßig auf Konferenzen der türkischen Denunziationsstiftung SETA auf. Jelpke erklärt dazu: „Das EZKS ist immer vorne mit dabei, wenn es darum geht, gegen kurdische Interessen zu hetzen. Dass die Bundesregierung einen solchen Verein unterstützt, ist Ausdruck ihrer Feindschaft gegenüber der kurdischen Demokratiebewegung.“