Türkei: Vom Kampf für die Rechte von Geflüchteten an der Basis

„Der Erdball ist kein Ort der Besatzung, sondern ein Ort, der uns ernähren, schützen und Unterschlupf bieten soll“, heißt es in einer Abschlusserklärung eines runden Tisches zur Situation von geflüchteten Frauen in Mersin.

Während von westeuropäischen Regierungen im Zusammenhang mit Seenotrettungsaktionen inzwischen sogar über eine Aufnahme von Geflüchteten im zweistelligen Bereich gefeilscht wird, wird dies nicht ins Verhältnis dazu gesetzt, dass Länder wie Pakistan und Libanon allein Millionen von Geflüchteten beherbergen. Weltweit ist Fakt, dass die meisten Menschen es ohnehin höchstens schaffen, aus Not und Zerstörung ins Nachbarland zu fliehen.

Laut UNHCR leben in der Türkei rund 2,7 Millionen allein syrische Flüchtlinge. Im Südosten des Landes, also Nordkurdistan, sind 25 Flüchtlingslager eingerichtet. Allerdings befinden sich nach offiziellen Angaben nur 272.812 syrische Flüchtlinge in Flüchtlingslagern.

Dass der so genannte „Flüchtlings-Deal“ Europas mit der Türkei hauptsächlich den jeweiligen Regierungen und ihren Helfershelfern dient, ist bereits oft beschrieben worden. Ebenso ist bekannt, dass in Lagern der Türkei für Frauen und Kinder gefährliche Machtstrukturen herrschen.

Zuwenig wird darüber geschrieben, dass es lokale Strukturen auf kommunaler Ebene gibt, die mit Flüchtlingen für eine lebenswerte Perspektive arbeiten, wie folgender Bericht aus der Stadt Mersin zeigt. Wissenswert dazu ist, dass die Stadt nicht erst in den 1990er Jahren ein Zielort für kurdische Binnenflüchtlinge vor Faschismus, Krieg und Repression geworden ist.

Flucht und Feminizid

Durch den Aufruf der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der Frauenbewegung TJA hat sich in Mersin am 7. September eine Versammlung am Runden Tisch den Problemen von geflüchteten Frauen angenommen. Im Ergebnis wurde Flucht als insbesondere die Lebensbedingungen von Frauen vernichtend definiert.

An der Versammlung nahmen Vertreterinnen von Parteien, Frauenprojekten und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie geflüchtete Frauen teil, also Frauen mit verschiedenen Perspektiven und Motivationen. Als Ergebnis der Versammlung wurde beschlossen, in anderen Provinzen ähnliche Arbeiten durchzuführen und Workshops abzuhalten.

Im Abschlussbericht der Versammlung heißt es:

„Der Erdball ist kein Ort der Besatzung, sondern ein Ort, der uns ernähren, schützen und Unterschlupf bieten soll. Kriege können nur durch Kriegsdienstverweigerung/Kriegsgegnerschaft und Freiheitskampf beendet werden, Flucht kann nur durch den Kampf für Frieden mit Frauen im Blick überflüssig gemacht werden.“

Jedes Jahr seien Millionen von Menschen auf der Erde zur Flucht in eine andere Region gezwungen. Durch Kriege verursachte Zerstörungen träfen am stärksten Kinder und Frauen, so die Resolution.

Männergewalt

„Die Gewalt, die von Männern gegen Frauen ausgeht, steigert sich noch in der Situation als Geflüchtete. Für Frauen bedeutet Flucht die Gefahr ernsthafter seelischer Traumata. Rein aufgrund ihres Geschlechts gegebene Vorgänge wie Menstruationszyklus, Schwangerschaft, Geburt, Wechseljahre sind eine zusätzliche Belastung. Angesichts der Situation stellt die Reproduktions-Gesundheit ein Risiko für ihr Leben dar.“ Migration verursache massenhaft erschwerte Lebensbedingungen durch eine Vielzahl von Problemen wie prekäres  Einkommen, Probleme bei der medizinischen Versorgung und Problemen mit der Sprache. Dazu heißt es in dem Abschluss-Dokument: „Es ist notwendig und wichtig, dass die Exilierten den gleichen Bildungsstandard wie die Staatsbürger des Landes ihres Exils erreichen und während der Ausbildungszeit Lösungen für die unmittelbaren Probleme finden können. Das ist wichtig, um sich ein Leben neu aufzubauen und die Zukunft gestalten zu können. Dass viele Menschen, die dem Krieg in Syrien entkommen und migriert sind, solch eine Unterstützung dringend benötigen, ist augenscheinlich.“

Probleme mit der Sprache

„Das Sprachproblem isoliert am meisten Frauen vom gesellschaftlichen Leben und treibt sie in die Einsamkeit. Zwischen ihnen und der Gesellschaft entsteht Misstrauen. So sind sie sexistischer Gewalt und Folter noch stärker ausgeliefert. Ihre Identität wird missachtet. Sie verlieren Hoffnung und Überzeugungen und führen ein Leben in Unsicherheit, woraus andere Profit schlagen.“

Mehr Ausbeutung zu AKP-Zeiten

Auf der Straße nach Geld zu fragen, Verheiratung im Kindesalter, Polygamie, sexistische Gewalt und Folter, Menschenhandel, ungewollte Schwangerschaften sind einige der im Abschlussbericht genannten Probleme, in dem zudem Folgendes festgehalten wird: „In der Türkei ist die Migration, seit die AKP mit der MHP an der Macht ist, in ein gravierendes Ausbeutungssystem verwandelt worden. Verhandlungen mit der EU sind auf dem Niveau des Feilschens angekommen. Ursächlich ist dafür das Ziel, um Europa eine Mauer zu errichten. Es hat aus der Politik ein Profitdenken gemacht. In der Regierungspolitik und von den Kommunen sind Äußerungen zu vernehmen, in denen Begriffe wie ‚bedrohliche und destabilisierende Elemente‘ für Geflüchtete verwendet werden. Eine solche Annäherung, insbesondere in der letzten Zeit, dient nichts anderem als die Anzahl von Hassreden gegen Geflüchtete zu erhöhen.“

Das Patriarchat stärkende Erscheinungen

Der Bericht weist darauf hin, dass die schlechten Bedingungen, die eine Flucht hervorbringt, noch einmal besonders Auswirkungen auf das Leben von geflüchteten Frauen hat: „Aus diesem Grund muss Flucht in Zusammenhang mit Feminizid gesehen werden. Geflüchtete Frauen sind oft ausgeschlossen vom öffentlichen Leben, ihre Arbeit, ihre Identität verschwindet. Ihr Körper wird diskutiert und ausgebeutet. Als potentielle Flüchtlinge werden Frauen innerhalb der Grenzen von Staat, Gesellschaft und Familie gesehen. Angesichts dessen werden Völker ohne Regierung noch nicht einmal als Flüchtlinge anerkannt. Todesfälle auf dem Fluchtweg werden nicht als Verbrechen anerkannt.“

Im Ergebnis heißt es in dem Bericht: „Krieg und die anderen durch Staaten geschaffenen Fluchtursachen wie Rassismus sind das Patriarchat stärkende Erscheinungen, die das Patriarchat selbst geschaffen hat. Als Frauen kämpfen wir für die Abschaffung der Fluchtursachen sowie gegen den aktuellen Umgang mit Geflüchteten.

Hierzu muss auf kommunaler Ebene ein offener Austausch zwischen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen und Organisationen und Parteien und Zusammenarbeit geschaffen werden, wobei demokratische Frauenorganisationen die Initiative übernehmen sollten.

Der Erdball ist kein Ort der Besetzung, sondern ein Ort, der uns alle ernähren, schützen und Unterschlupf bieten soll. Kriege können nur durch Kriegsdienstverweigerung/Kriegsgegnerschaft und Freiheitskampf beendet werden, Flucht kann nur durch einen Kampf für den Frieden mit Frauen im Blick überflüssig gemacht werden.“