Demokratischer Islam: Religion gegen Macht, Krieg und Unterdrückung

Der Demokratische Islamkongress will in Nord- und Ostsyrien eine Religion gegen Macht, Krieg und Unterdrückung verbreiten. „Das ist die vom Propheten praktizierte Religion", meint die Ko-Vorsitzende Delal Xelîl.

Der Demokratische Islamkongress (ku. Kongreya Îslamê ya Demokratîk) will die Gesellschaft in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien verändern. Die Ko-Vorsitzende Delal Xelîl hat sich gegenüber ANF zu der Entstehung und den Grundsätzen der Vereinigung geäußert und sieht als wichtigste Errungenschaft den gegründeten Frauenrat: „Wir müssen eine Religion gegen die Macht, den Staat, die Hegemonie, die Unterdrückung und den Krieg schaffen. Das ist die vom Propheten praktizierte Religion."

Mit Blick auf die Atmosphäre in der Zeit, in der sich die Funken der Revolution in Rojava ausbreiteten, sagte Delal Xelîl: „Mit dem Beginn der Rojava-Revolution fanden viele Ereignisse statt. Viele Kräfte wollten in die Werte und Überzeugungen der Menschen in der Region eingreifen. Es gab Tendenzen, die Richtung der Revolution in Richtung des politischen Islam zu ändern. In dieser Zeit wurden islamistische Gruppen wie der IS in der Region präsent. Die Präsenz des IS stellte eine große Gefahr für die Menschen in Rojava dar. Dessen waren sich auch alle bewusst. Der IS organisierte sich zunächst über Medrese [Islamische Lehranstalten]. Die Übernahme der in der Region verbreiteten Medrese durch den IS hätte die Ausbreitung eines politischen, radikalen Islam bedeutet. Um dem entgegenzuwirken, haben wir uns im Einklang mit unserer Verantwortung als Menschen mit der Idee des demokratischen Islams von Abdullah Öcalan befasst. Das Phänomen der Religion, das wir als Kultur, Geschichte und soziale Struktur betrachten, wurde verzerrt und in die Gegenwart gebracht. Mit der Ausbreitung des IS in der Region begannen wir, zum demokratischen Islam zu forschen."


Delal Xelîl und ihre Mitstreiter:innen organisierten sich ab 2014 als „Union der Religionen“, berichtete sie weiter: „Wir haben uns zunächst in Rojavayê Kurdistanê organisiert. Mit dem zweiten Kongress, der 2021 stattfand, haben wir unsere Arbeit als Demokratischer Islamkongress fortgesetzt. Es war notwendig, sich umfassend mit der Religion des Islam zu beschäftigen. Um ihn in seinen historischen Dimensionen zu untersuchen, mussten wir ihn mit einem breiten Blickwinkel betrachten. Neunzig Prozent der Menschen in Rojava sind Muslime. Die richtigen und bewussten Muslime heranzuziehen bedeutet, der Gesellschaft die richtige Richtung zu geben. Unser wichtigster Schritt war die Einrichtung von Frauenräten im Demokratischen Islamkongress. Der Frauenrat war das Ergebnis großer Kämpfe, denn wenn wir uns das historische Abenteuer der Religions- und Weltanschauungsforschung ansehen, waren Frauen von diesen Studien ausgeschlossen. Wir sind bei unseren Recherchen nicht auf Institutionen und Organisationen gestoßen, an denen Frauen beteiligt waren."

Wir erstellen keine neue Fatwa“

Der Demokratische Islamkongress ist inzwischen in ganz Nord- und Ostsyrien aktiv. Zum Selbstverständnis des Verbands erklärte die Ko-Vorsitzende: „Religion wird als Werkzeug für politische Interessen genutzt und entsprechend unterschiedlich interpretiert. Je nach politischem Verständnis und Ausrichtung hat sich die Sicht der Menschen auf die Religion verändert. Unser Fatwa-Komitee basiert auf den Ideen des Demokratischen Islamkongresses und stützt sich auf den Koran und die Sunna des Propheten. Wir erstellen keine neue Fatwa. Wir gehen zurück in die Geschichte und nehmen das Leben des Propheten als Grundlage.

Im Namen des Korans sind viele Fatwas in der Gesellschaft verbreitet worden. Die Gesellschaft ist sich bewusst, dass die Fatwa zu einem Instrument der Interessenpolitik geworden ist. Wenn wir diese Entwicklung analysieren, sehen wir Menschen, die im Namen der Religion versklavt wurden. Die Emotionen der Menschen wurden durch eine verzerrte Religion und Paradiesvorstellung ausgenutzt. Die Gesellschaft wurde durch die Fatwas einer Gehirnwäsche unterzogen. Eines der Grundprinzipien des Demokratischen Islamkongresses ist es, sich mit der Medina-Konvention zu organisieren. Unser Hauptziel ist es, die aus 47 Artikeln bestehende Gemeindeordnung von Medina [Bündnisvertrag, den der islamische Prophet Mohammed nach seiner Ankunft in der später in Medina umbenannten Stadt Yathrib im Jahr 622 zwischen den Auswanderer:innen aus Mekka und seinen Helfer:innen in Yathrib schloss] wiederzubeleben. Denn die Konvention von Medina ist ein Vertrag, der auf der Einheit und Solidarität der Gesellschaft, der Geschwisterlichkeit der Völker und der Integrität der Religionen und Überzeugungen beruht. Heute werden Fatwa und Fiqh gegen die Gesellschaft organisiert. Nach und nach haben Fatwa und Rechtsprechung, die in Form von Tradition und Gewohnheit wirken, eine neue Religion geschaffen. Unser Kampf besteht darin, den demokratischen Islam gegen die verzerrte Religion durchzusetzen."

Religiöse Bildung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft

Der Bildungsausschuss im Demokratischen Islamkongress steht im Kontakt mit den Schulen und Universitäten in der Region, berichtete Delal Xelîl: „Der demokratische Islam wird in allen Bildungsprogrammen gelehrt. Religionsunterricht wird in den Schulen von der ersten bis zur neunten Klasse erteilt. Es werden spezielle Studien durchgeführt, die die Strömungen des Islam in Geschichte, Religion und Glauben untersuchen. Wir führen Schulungen durch, um der Gesellschaft, die unter dem Namen der Religion korrumpiert werden soll, das bestehende System verständlich zu machen. Denn es soll eine Gesellschaft geschaffen werden, die nicht denken, sprechen und erklären kann. Dies geschieht meist unter dem Namen der Religion.

Wir haben eine religionswissenschaftliche Fakultät, die an die Universität Rojava angeschlossen ist. Es werden Kurse in Philosophie und Scharia angeboten. Wir stehen auch in ständigem Dialog mit den Imamen und Khatibs in den Medreses. Denn sie sind es, die die Bevölkerung ansprechen. Ein bewusster Imam und Khatib bedeutet die Schaffung einer bewussten Gesellschaft. Ihre Predigten weisen nicht auf Traditionen und Bräuche hin. Es sind Predigten, die die Ungleichheit der Geschlechter beseitigen, den Platz der Frau in der Gesellschaft ansprechen, die Wahrheit der Familie begreifen, soziale Probleme zur Sprache bringen und Lösungen für gesellschaftliche Krankheiten finden."

Delal Xelîl teilte mit, dass eine vierjährige Akademie fertiggestellt wurde, die nun auch Online-Unterricht anbietet, und dass es Medreses in Minbic, Raqqa und Sirîn gibt. Eine weitere Medrese soll in Qamişlo eröffnet werden.

Zuerst müssen sich die Frauen organisieren

Zur Stellung von Frauen in Religionen sagte Delal Xelîl: „Es ist die Frau, die sich in der schwierigsten Situation mit den bestehenden, geschriebenen und gezeichneten Tabus befindet. Was uns am meisten zu schaffen macht, ist, dass Frauen dies als Schicksal hinnehmen, ohne es zu hinterfragen, und sich ihm unterwerfen. Das wollen wir mit dem Demokratischen Islamkongress durchbrechen. Um eine wahre Religion zu entwickeln, müssen wir zuerst die Frauen organisieren. Wir müssen eine Religion gegen die Macht, den Staat, die Hegemonie, die Unterdrückung und den Krieg schaffen. Das ist die vom Propheten praktizierte Religion."

In allen Städten in Nordostsyrien werden Büros eröffnet

In Tabqa wurde am 4. Juni die Vereinigung „Al-Ashraf Ahl al-Bait“ gegründet. Ahl al-Bait bezeichnet die Familie beziehungsweise die Nachkommen des islamischen Propheten Mohammed. Die Vereinigung stützt sich ebenfalls auf die Medina-Konvention und wird einen eigenen Schura-Rat im Demokratischen Islamkongress einrichten. Ziel der Organisation ist es, sich der Politisierung des Islam durch den türkischen Staat und islamistische Bewegungen wie dem IS oder der Muslimbruderschaft entgegenzustellen, sowohl in der nord- und ostsyrischen Autonomieregion (AANES) als auch allgemein im Nahen Osten. Delal Xelîl teilte dazu mit: „Die Organisation, die sich auf die Medina-Konvention stützt, ist unter dem Dach des Demokratischen Islamkongresses organisiert und wird in allen Städten Nord- und Ostsyriens Büros eröffnen und Komitees bilden. Al-Ashraf Ahl al-Bait will die Ideen und die Moral des Propheten Mohammed in der Gesellschaft weiter verbreiten."