Demokratie in einer Türkei ohne Kurden?

Die CHP und die demokratischen Kräfte in der Türkei können nicht so tun, als gäbe es die kurdische Frage nicht. Durch Wegschauen, Schweigen und Beschwichtigung kann der Faschismus nicht zurückgedrängt werden.

Kurdische Frage und Demokratisierung

Der türkische Staat hat ein großes Militärkontingent in Südkurdistan stationiert und zieht weitere Truppen zusammen. Erdoğan hat wiederholt angekündigt, die Operationen in diesem Sommer zu verstärken. In Nordkurdistan gibt es ohnehin eine umfassende militärische Mobilmachung, es wird von Gefechten in vielen Regionen berichtet. Auch die Angriffe auf Rojava gehen in verschiedenen Formen weiter. Rojava wird zudem aufgrund der geplanten Kommunalwahlen bedroht. Die türkische Staatsführung wiederholt immer wieder, dass sie das Grenzgebiet in einer Tiefe von 30 Kilometern unter ihre Kontrolle bringen wird. Kurz gesagt, ganz Kurdistan wird offen angegriffen und der Krieg hat sich ausgebreitet.

Erdoğan und Bahceli haben alle Ressourcen der Türkei für diesen Krieg und die Besetzung ausgegeben. Die Wirtschaft befindet sich in einem sehr schlechten Zustand. Die Kaufkraft der Bevölkerung sinkt. Die CHP will eine Erhöhung des Mindestlohns und der Renten. Dafür gibt sie Erklärungen ab und organisiert Kundgebungen. Aber der Bereich, in den die wirtschaftlichen Ressourcen neben Korruption und Plünderung fließen, ist der Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden. Dieser Krieg vergiftet die demokratische Atmosphäre in der Türkei. Er führt auch dazu, dass in dem Land ein juristischer Doppelstandard eingeführt wird. Im Westen gibt es kein Treuhandsystem, aber in den kurdischen Gebieten schon. Fast alle von pro-kurdischen Parteien regierten Gemeinden sind in den vergangenen beiden Wahlperioden beschlagnahmt worden. Jetzt gehen diese Beschlagnahmungen weiter.

Die AKP und MHP wollen nicht über die wahren Probleme der Türkei diskutieren. Die kurdische Frage ist nicht erst seit heute ein Problem. Sie ist eine historische Frage und betrifft alle Bevölkerungsgruppen der Türkei. Wenn es Krieg gibt, wird die Demokratie auf Eis gelegt und das Recht ausgehebelt. Die rassistische und nationalistische Propaganda nimmt zu, und die Köpfe der Menschen werden vernebelt. Die politische Atmosphäre wird angespannt und die Opposition wird unterdrückt. Kurzum, die Rechnung für den Krieg zahlen vor allem die Kurdinnen und Kurden, die Armen und die Werktätigen. Die Kinder der Machthaber ziehen nicht in den Krieg. Sie sind nicht mittellos und von Arbeitslosigkeit bedroht. Sie ernähren sich von der Sahne des Landes.

Wie in den Medien berichtet wurde, sind neue Truppen nach Südkurdistan verlegt worden. Von mehr als zehntausend neuen Soldaten und Hunderten von Panzern ist die Rede. Die Truppenverstärkung geht weiter. Es gibt vermehrte Luftangriffe auf die Widerstandsgebiete. Die Angriffe auf Kampfstellungen mit chemischen und verbotenen Waffen haben stark zugenommen. Die PDK-Medien berichten über viele Themen. Sie ignorieren jedoch diese Angriffe und die Ausweitung der Besatzung, die das Schicksal Südkurdistans bestimmen wird. Die kurdischen Intellektuellen und Parteien haben die Situation irgendwie als gegeben hingenommen. Es gibt keine ernsthafte Reaktion und Diskussion. Die PDK setzt ganz Kurdistan für ihre eigenen Interessen und Machtkalküle aufs Spiel. Angeblich wird der türkische Staat die PKK und die Guerilla aus dem Süden vertreiben und die Region der PDK überlassen. Wer das glaubt, kennt den türkischen Staat immer noch nicht. Nur die Guerilla zeigt jetzt noch Mut und leistet Widerstand gegen die türkische Armee. Die PDK wird nicht die Kraft und den Willen haben, die Türkei zu beseitigen, nachdem die Guerilla ausgeschaltet ist. Das ist nicht möglich. Alle Errungenschaften des Südens werden zunichte gemacht werden.

Der türkische Staat erklärt Rojava sogar wegen Kommunalwahlen den Krieg. Innerhalb der Türkei beschlagnahmt er kurdische Gemeinden, die nach seinen eigenen Gesetzen gewonnen wurden. Warum sollte er Südkurdistan bestehen lassen und sich zurückziehen, wenn er eingedrungen ist und sich dort niedergelassen hat? Wird er die Kurden und Kurdistan um der PDK willen anerkennen? Gibt es Kurdinnen und Kurden, die so naiv sind? Nein. Deshalb müssen die Bevölkerung, die Intellektuellen und die Parteien in Kurdistan das Vorgehen der PDK ohne weitere Verzögerung diskutieren und eine Position festlegen.

Auch die demokratischen Kräfte in der Türkei und die CHP können nicht so tun, als gäbe es das Problem nicht. Die CHP versucht, die Debatte über Mindestlohn und Rentenerhöhung zur Agenda zu machen. Aber sie schweigt zur kurdischen Frage und zum Krieg, dem größten und wichtigsten Problem des Landes. Durch Wegschauen, Schweigen und Beschwichtigung kann der Faschismus nicht zurückgedrängt werden und keine Demokratisierung stattfinden. Wenn die CHP und andere Oppositionskräfte die Demokratie und die Wirtschaft unterstützen wollen, sollten sie sich zuerst gegen den Krieg und die Besatzung stellen. Wie hoch sind die Kosten dieses Krieges für die Wirtschaft? Weiß das jemand, spricht darüber oder fragt danach? Nein. Es werden Berechnungen über eine Belastung der Wirtschaft durch währungsgesicherte Einlagen angestellt, aber die Kosten des Krieges werden nicht einmal erwähnt. Erdoğan und Bahçeli wollen die Opposition kastrieren und sie sozusagen „heimisch und national" machen. Sie versuchen, die Opposition aufzuweichen und auf ihre Linie zu bringen, um Zeit zu gewinnen und an der Macht zu bleiben. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel sagt, dass vorgezogene Wahlen unmittelbar bevorstehen. Aber wenn der Krieg eskaliert und Erdoğan eine Mobilmachung ausruft, wird es nicht zu Wahlen kommen. Wenn die Türkei demokratisch werden soll, müssen alle Kräfte, die nicht für Krieg und Faschismus sind, Stellung beziehen und sich bewegen.

Die Kolumne erschien zuerst auf Türkisch in der Zeitung Yeni Özgür Politika