Brief einer Internationalistin an Annalena Baerbock

„Wir denken nicht einmal im Traum daran, unsere Waffen niederzulegen!“, schreibt eine Internationalistin, die die Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien verteidigt, an die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock.

„Wir lieben das freie Leben“

Wir schreiben das Jahr 2024. Weihnachten naht. In Syrien wurde der diktatorischen Ära des Assad-Clans endlich ein Ende gesetzt und das „neue Syrien“ ist in aller Munde. Doch während sich im Globalen Norden nun alle die Hände reiben, weil der neoliberale Islamismus à la al-Jolani auch mit westlichen Interessen kompatibel zu sein scheint, und sich auf den hart verdienten Festtagsschmaus und endlich ein paar Tage ohne Bilder von Bomben auf Wohngebiete, Flüchtlingslager, Krankenhäuser freuen, erleben Menschen in Syrien nach einem kurzen Freudentaumel über Assads Ende die harte Realität des Dritten Weltkrieges.

Und während in einem Teil Syriens Menschen fassungslos und unvorbereitet diversen bewaffneten islamistischen Söldnergruppen gegenüber stehen, die ungebremst und erbarmungslos Vergeltung für die Gräueltaten des Regimes suchen, greifen in einem anderen Teil immer mehr Frauen zur Waffe, schließen sich den Frauenverteidigungsstrukturen an, organisieren den Schutz ihrer Stadtteile oder machen sich auf den Weg, um Kobanê zu verteidigen. Denn während der Rest der Welt bislang kaum eine direkte Begegnung mit dem islamistischen Faschismus machen musste, da er auf seinem Höhepunkt durch den Widerstand der Kämpfer:innen der YPJ und der YPG in Kobanê gestoppt werden konnte, wissen die Frauen im nordöstlichen Teil Syriens sehr wohl, welcher Feind ihnen (nun wieder) gegenüber steht: radikal-islamistische Söldnergruppen, bekannt für Kriegsverbrechen und sexualisierte Gewalt – zwar Perwoll gewaschen, Bart gestutzt, sowohl militärisch als auch politisch-rhetorisch geschult, doch im Kern noch immer islamistisch, fundamentalistisch, faschistisch und zutiefst frauenfeindlich in ihren Zielen und Methoden.

Deutlich wurde dies einmal mehr in einem Interview von Obaida Arnaout, dem Sprecher der HTS-geführten Übergangsregierung, beim libanesischen TV-Sender bei AlJadeed. Auf die Nachfrage, wie sich Frauen an der neuen Regierung beteiligen werden, sagte er, dass vieles nicht der Natur der Frau entspreche. Demnach haben Frauen in Politik, Judikative und Verteidigung nichts zu suchen. Insbesondere eine Waffe zu nutzen, entspräche nicht der Natur der Frau.

Und während HTS ihre Ideologie nun auch in offizielle Regierungspolitik gießen will und die Anführer der HTS und SNA-Söldner neue Ministerposten in Damaskus beziehen, greifen sie weiterhin, gestützt durch Luftangriffe der Türkei, die Gebiete der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) an. Und während al-Jolani mit den ersten Gästen aus der Türkei, den USA und Frankreich Hände schüttelt, sind es die Milizen der SNA, die in den besetzten Gebieten von Efrîn und Şehba Frauen entführen, einsperren und foltern, weil sie „mit der DAANES zusammenarbeiten“. Und während eine ganze Reihe von SNA- und HTS-Söldnern mit IS-Aufnähern an ihrer Uniform herumlaufen, überfällt der wiedererstarkte IS ergänzend dazu in alter Manier die wohlgemerkt nicht nur kurdischen Gebiete der DAANES. Es muss klar gesagt werden, dass es hierbei NICHT um Sicherheitsbedenken der Türkei geht, sondern um die Auslöschung der Idee und Praxis eines demokratischen, multiethnischen und multireligiösen Syriens unter Vorreiterinnenschaft von Frauen. Dies zeigt sich einerseits physisch mit der gezielten Ermordung von drei Zenobiya-Aktivistinnen in Minbic (Zenobyia ist der Dachverband arabischer Frauen), der Kriegsberichterstatter:nnen Cihan und Nazım, die neben der Kriegsrealität eben genau diese Kraft des Widerstands sichtbar machen wollten, und des Ko-Sprechers des Jugendrats der Syrischen Zukunftspartei in Deir ez-Zor, Muhammed Hesen El Samir. Parallel dazu wird dieser Versuch der Auslöschung der DAANES über einen Informationskrieg ohnegleichen geführt. Bilder von willkürlichen Hinrichtungen, Misshandlungen und Ermordungen von Kriegsgefangenen, die Entführung, Misshandlung und Beleidigung von weiblichen Kriegsgefangenen, die Brutalität und Widerlichkeit mordender, plündernder, islamistischer Banden sollen Angst und Schrecken verbreiten und die Moral der widerstandleistenden Kämpfer:innen brechen.

Ganz unbeeinflusst von alledem steht nun die deutsche Außenministerin an der Seite ihres türkischen Amtskollegen Hakan Fidan und fordert in Anbetracht der weiter eskalierenden Angriffe seitens der von der Türkei gesteuerten SNA-Söldner dazu auf, die Waffen niederzulegen.

Sie fordert dies jedoch nicht von den SNA-Söldnern, die bekannt sind für ihre Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Sie fordert dies auch nicht von der türkischen Armee, wenn sie die Bevölkerung der DAANES völkerrechtswidrig auf syrischem Territorium angreift. Nein, sie fordert kurdische Frauen und deren mit ihnen auf dem gleichen Land lebende verbündete arabische, armenische, assyrische und chaldäische Frauen auf!

Es ist keine zwei Jahre her, da hielt Annalena Baerbock noch Schilder mit der Aufschrift „Jin, Jiyan, Azadî“ in die Höhe. Nun können wir nur spekulieren, was sie dazu veranlasst hat, nicht weiter an der Seite der kurdischen Frauen zu stehen, sondern sich an die Seite von Erdogan und Fidan zu stellen.

Gerne möchte ich unsere Außenministerin einladen, selbst nach Syrien zu kommen und unsere Situation am eigenen Leib zu erleben. Frau Baerbock, würden sie sich hier sicher fühlen ohne bewaffneten Schutz? Sie sind hier immer herzlich willkommen. Und Sie können sich gewiss sein, so wie wir jede Frau in der DAANES schützen, so werden wir auch Sie hier mit unseren Waffen schützen, wenn sie in die DAANES kommen.

Ich als Internationalistin in der DAANES, die sich entschieden hat, an der Seite von Kurdinnen, Araberinnen, Armenierinnen, Assyrerinnen, Chaldäerinnen gegen den islamistischen Faschismus zu kämpfen und nicht nur große Worte zu spucken, kann jedenfalls sagen: „Nicht einmal im Traum werden wir unsere Waffen niederlegen!“ Denn wir lieben unser Leben und wir lieben das freie Leben, das wir hier Schritt für Schritt aufbauen. Wir werden uns nicht von islamistischen Söldnern überrennen, vergewaltigen, ermorden und schänden lassen. Wir haben uns bewaffnet, weil es notwendig ist. Wir verteidigen uns mit der Waffe in der Hand, weil wir die Rolle des Kriegsopfers nicht länger akzeptieren. Wenn uns schon Krieg aufgezwungen wird, dann verteidigen wir uns. Wir sind in dieser Situation, weil hegemoniale Kräfte wie Deutschland auf dem Rücken der Gesellschaften des Mittleren Ostens hier den Dritten Weltkrieg führen. Niemals werden wir unsere Waffen niederlegen, denn wir brauchen sie für unsere legitime Selbstverteidigung.

Was wir NICHT brauchen, ist Ihre patriarchale Außenpolitik in weiblichem Gewand, Frau Baerbock! Ich fordere Sie einfach nur dazu auf, still zu sein und uns in Ruhe zu lassen. Daraus folgt dann natürlich auch, keine Waffen an die Türkei mehr zu verkaufen, die diese Waffen entweder selbst gegen uns einsetzt oder sie an ihre islamistischen Söldner-Banden verteilt. Und es bedeutet auch, dem türkischen Staat keine Milliarden mehr im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals hinterherzuwerfen, die für ethnische Säuberung der kurdischen Gebiete in Form von Zwangsmigration und Neuansiedlung von Söldner-Familien verwendet werden.

Liebe Frau Baerbock – ob Sie kommen oder nicht, wir werden weiter mit der Waffe in der Hand unsere Revolution verteidigen, die eine Frauenrevolution ist, bis WIR es nicht mehr für notwendig halten. Die Natur der Frau ist nicht Unterordnung, sondern Kampf und Widerstand. Wenn SIE dazu beitragen wollen, dann stoppen Sie sofort die Waffenverkäufe an die Türkei und andere islamistische Gruppen und setzen Sie sich ein für eine Anerkennung der DAANES!