Amed Şaho hat als Parteiratsmitglied der PJAK (Partiya Jiyana Azada Kurdistan, Partei für ein freies Leben in Kurdistan) im Radiosender Gel eine Einschätzung des Widerstands im Iran und in Rojhilat (Ostkurdistan) abgegeben. Şaho wies darauf hin, dass der Aufstand seit sechs Monaten andauert und der iranische Staat seine brutalen Angriffe fortsetzt. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt des Radiointerviews.
Der iranische Staat will den „Jin Jiyan Azadî"-Aufstand unterdrücken und hat seine Angriffe gegen die Bevölkerung verstärkt. Wie bewerten Sie diese Angriffe?
Gewalt ist ein Merkmal des Nationalstaates. Auch der iranische Staat ist eine Form des Nationalstaates und er greift die Gesellschaft mit Waffen, Verhaftung, Entführung, Mord, Arbeitslosigkeit, Terror und vielen anderen Methoden an. Er konzentriert sich auf die Spezialkriegsführung und verfolgt eine Politik, die auf Erpressung, Täuschung, Diebstahl und Lügen beruht. Ohne diesen Charakter können Staaten Gesellschaften nicht beherrschen. Seit der Revolution von 1979 versucht der iranische Staat unter seinen neuen Machthabern, mit diesem Charakter seine Herrschaft über die Gesellschaft zu begründen. Das sind die Hauptmerkmale dieses Staates. Bis heute stellt sich die Gesellschaft mit aller Kraft dagegen. Der Staat braucht die Gesellschaft, die Gesellschaft braucht den Staat nicht. Aufgrund dieser Formel will der iranische Staat seine Vorherrschaft über die Gesellschaft mit Gewalt durchsetzen.
Der Staat hat Angst
Zu Beginn der Volksrevolution im Iran wurde zur Durchsetzung der Hegemonie und zur Unterdrückung der Revolution Gewalt angewandt, insbesondere gegen führende Personen, und es wurde eine sehr intensive Atmosphäre der Angst in der Bevölkerung geschaffen. Der Staat weitete dieses Vorgehen nach und nach aus. Mit den Massakern, die in Kurdistan begannen, wollte er die Revolte vollständig unterdrücken und auslöschen. Aber die Menschen wissen, dass es dort, wo es einen Staat gibt, eine Krise und keine Freiheit gibt und demokratische Standards verletzt werden. All das ist gegen die menschliche Natur. Es ist die Natur der Gesellschaft, die sie schützt und erhält. Im Moment hat die Revolution im Iran und in Ostkurdistan den iranischen Staat erschüttert und deshalb greift er sehr brutal an. Der Staat hat Angst.
Die Souveränität des Staates ist erschüttert worden. Die Menschen sind sich dessen bewusst. Das haben wir bei den letzten Präsidentschaftswahlen gesehen. Die Menschen sind nicht zur Wahl gegangen und haben protestiert, weil sie wussten, dass die Wahlen für den iranischen Staat nur eine Formalität sind. Das Volk akzeptiert diese Situation nicht und lehnt sie ab. Deshalb will sich der Staat heute mit Gewalt durchsetzen, mit Massakern an Frauen und jungen Menschen, mit Hinrichtungen und extralegalen Exekutionen. Aber wir sehen, dass die Bevölkerung das nicht hinnimmt und die „Jin Jiyan Azadî“-Revolution sich weiter entwickelt. Das Volk erhebt sich gegen die Macht. Es wehrt sich bis heute gegen die Unterdrückung und fordert seine legitimen Rechte ein. Es ist der Staat selbst, der nicht legitim ist.
An der Spitze der Revolution stehen Frauen
Wenn der iranische Staat auf gewaltsamen Methoden beharrt, wie soll die „Jin Jiyan Azadî"-Revolution dann weitergehen?
Die Revolution hat mit dem Slogan „Jin Jiyan Azadî" an Bedeutung gewonnen. Diese drei Worte haben eine philosophische und historische Bedeutung und die Gesellschaft und diese Revolution wie ein Licht geleitet. An der Spitze der Revolution stehen Frauen, und das ist an sich schon eine Botschaft. Das allein drückt schon eine Wahrheit aus, die Wahrheit, dass diese Revolution sich gegen den Charakter des Staates richtet. Die Revolution steht aufrecht gegen die Lügen und Zumutungen, die unter Zwang zur Wahrheit der Gesellschaft gemacht werden sollen. Der iranische Staat zwingt der Gesellschaft einen langsamen Tod (merga tedrîcî) auf. Dieser Tod wird im Bildungssystem systematisiert. Mit diesen Mechanismen sollen Individuen geschaffen werden, die keinen Willen, ein passives Gehirn, keine Hoffnung und keine Politik haben und ihrer Existenz überdrüssig sind. Dieser Slogan steht gegen sie. Dieser Staat, der sich in der Gesellschaft durchsetzen will, indem er die Frauen schwächt und der Tatsache widerspricht, dass es Frauen gibt, will die von Frauen angeführte Revolution vereiteln.
Jin-Jiyan-Azadî hat alles auf den Kopf gestellt
Das Leben innerhalb der Grenzen Irans ist unerträglich geworden. Es gibt keinen Frieden, keine Sicherheit, keine Freiheit, keine Verteidigung. Die Menschen sind ihrer Grundrechte beraubt worden. Es herrscht eine unsichere, ungerechte und ungleiche Gesellschaft. Der Staat ist gegen Freiheit und Demokratie. Der Staat schafft Sklaverei. Wir sehen das an der Situation von Frauen und jungen Menschen in der Gesellschaft. Wir sehen es bei Völkern wie den Kurden, Belutschen und Aserbaidschanern. Mit dem Slogan Jin-Jiyan-Azadî hat eine Mentalitätsrevolution stattgefunden, die alles auf den Kopf gestellt hat. Es findet eine Revolution des Gewissens und der Moral in der Gesellschaft statt. Natürlich sieht der Staat diese Situation als eine Bedrohung für sich selbst an. Wir können sagen, dass in diesen Monaten im Iran und sogar in der Region historische Veränderungen stattgefunden haben. Begonnen wurde diese Revolution von kurdischen Frauen und dem kurdischen Volk. Im Iran und im Ausland wird der kurdische Slogan Jin-Jiyan-Azadî verwendet.
Aufbau einer demokratischen Nation
So breitet sich die Revolution aus und expandiert. Das kurdische Volk führt die Revolution im Nahen Osten an, aber nicht nur hier, es führt die Revolution der Welt und der Menschheit im Sinne von Rêber Apo an. Es ist dabei, langsam eine demokratische Nation und ein konföderales System aufzubauen. In einer demokratischen Nation können Frauen nicht als zweites Geschlecht behandelt werden, sondern sind von grundlegender Bedeutung. Die Jugend, das Volk und die ständig Unterdrückten werden als Basis genommen und unterstützt. Gemeinsam mit ihnen entwickelt sich die Revolution weiter. Wir glauben, dass sich die Revolution unter der Führung des kurdischen Volkes, der Aufständischen, der Frauen und der Jugend weiter ausbreiten wird und den Staat in Bedrängnis bringen wird.
Warum greift der iranische Staat vor allem Frauen und Jugendliche an?
Der Staat selbst ist im Grunde wie ein Krebsgeschwür, das die Menschheit befällt. Überall, wo er ist, gibt es Krankheit. Er ist die Quelle der sozialen Probleme und verbreitet Krankheiten. Der Staat ist der Tod, aber Frauen wollen Leben. Wenn der Staat in die menschlichen Zellen eindringt, überlässt er sie dem Tod. Der Staat ist der Dieb der Gesellschaft. Er lässt die Menschen ohne Identität zurück. Er zwingt ihnen eine andere Sprache statt der Muttersprache auf. Der iranische Staat ist unzufrieden mit denen, die sich ihm widersetzen und die Gesellschaft anführen. Das ist weder neu noch etwas, das erst in den letzten sechs Monaten begonnen hat. Diese Ziele werden verfolgt, seit dieses Regime an die Macht gekommen ist.
Kurdistan war schon immer ein Testzentrum
Das kurdische Volk ist sich der Realität des Staates bewusst. Ihm sind auch die Angriffe gegen andere Völker in anderen Regionen nicht fremd, denn Kurdistan war schon immer ein Testzentrum für diese Angriffe und diese Politik.
Was ist also der größte Unterschied bei dieser Revolution? Es beteiligen sich junge Menschen, Jungen und Mädchen von der Grundschule bis zur Universität daran. Sie trugen zur Entwicklung der Revolution bei, indem sie ihre Kopftücher abnahmen, Bilder von Khamenei und Khomeini zerrissen, Plakate aufhängten, Parolen gegen den Staat riefen und an Demonstrationen auf der Straße teilnahmen. Sie waren es, die den Staat erschütterten. Schülerinnen und Schüler und Studierende taten, was sonst niemand tun konnte, und das sorgte für große Wut im Staat. Diese Revolution ist eine Revolution, an der sich alle im Alter von sieben bis siebzig Jahren beteiligen.
Schülerinnen werden vergiftet
Dagegen hat der Staat die Zentren der Revolution ins Visier genommen und begonnen, Schülerinnen zu vergiften. Dieser Plan wurde vom Staat entwickelt. Der Staat rächt sich an den Schülerinnen. Vor allem die Angriffe auf Frauen sind vorsätzlich. Die Revolution hat zu gravierenden Veränderungen in der Gesellschaft geführt. Es hat einen großen Aufstand von Frauen gegeben, die völlig gegen die Philosophie und Ideologie des Staates sind. Die staatlichen Angriffe unterscheiden sich nicht von den Angriffen des IS auf Frauen. Sie wollen Frauen und Mädchen von den Schulen fernhalten und zu Hause einsperren, damit sie sich nicht der Wissenschaft widmen und ein Bewusstsein entwickeln.
Die Schule hat in der Revolution eine neue Definition erhalten. Im Iran war die Schule früher ein Ort der Unterdrückung und Sklaverei. Heute hingegen sind Schulen und Universitäten der Ort, an dem revolutionäre Persönlichkeiten hervorgebracht werden. Auf diese Weise sind sie zum Zentrum der Revolution geworden, und deshalb greift der iranische Staat sie so brutal an, um sie zum Rückzug zu bewegen und Angst zu verbreiten. Die Verantwortlichen für diese Ereignisse müssen vom Volk verurteilt werden. Ansprechpartner ist der Staat, der das Volk täuschen und seine Politik zu Ende bringen will. Um diese Ereignisse aufzuklären, sollten die Studierenden den Druck auf den Staat erhöhen und diese Politik zerstören, indem sie den Funken der „Jin Jiyan Azadî“-Revolution stärken.
Sich nicht zum Werkzeug machen lassen
Die Menschen, vor allem die Frauen und Studierenden, müssen aufpassen, dass sie nicht zum Werkzeug für die Politik anderer werden. Denn es gibt viele Parteien, die mit diesem Willen, der sich herausgebildet hat, Politik machen wollen. Diese Kräfte streben nach Macht. Die Menschen müssen ihre grundlegenden Ziele schützen und dürfen nicht zulassen, dass diese Ziele in Frage gestellt werden. Die wichtigste Agenda ist die „Jiyan Jiyan Azadî“-Revolution. Die Bevölkerung fordert ihre Grundrechte ein und will die Ketten der Sklaverei sprengen. Sie will diesem finsteren Staat ein Ende setzen.
Zuallererst muss das Volk eine Einheit bilden und einen gemeinsamen Willen entwickeln, um sich vor den staatlich geschürten Konflikten und Spaltungen schützen. Die Studierenden und die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft müssen Selbstverteidigungskräfte aufbauen und die Initiative zur Verteidigung ergreifen. Verteidigung kann nicht vom Staat erwartet werden. Der Staat selbst ist die Quelle der Unsicherheit. Die Menschen müssen sich selbst schützen. Zweitens müssen die Menschen die Bildung verbessern. Bis jetzt lief alles über den Namen des Vaters. Aber es sind die Frauen, die Demokratie, Freiheit und Leben schaffen und bringen.
Jahrhundert der Frauen
Rêber Apo bezeichnet dieses Jahrhundert als „das Jahrhundert der Frauen". Die allgemeinen Entwicklungen bestätigen diese Aussage. Hinter diesem Slogan stehen eine Philosophie und ein Paradigma. Auf der Grundlage dieser Idee können sie den Widerstand verstärken. Alle Schulen, von der Grundschule bis zur Universität, müssen mit einem gemeinsamen Mechanismus kämpfen und sich organisieren. Sie müssen ihre Freiheit gegen die Herrschaftsmentalität garantieren, gegen diejenigen, die mit der Energie der Jugend Politik machen und sie für ihre Interessen nutzen wollen.
In den Kerkern kommt es zu verschiedenen Übergriffen, insbesondere weibliche Gefangene werden belästigt und vergewaltigt. Wie bewerten Sie diese Vorfälle?
Dieser Staat baut seine Macht aus, indem er die Menschenrechte verletzt. Kein Lebewesen ist im Iran sicher. Niemand kann sich vor der staatlichen Politik schützen. Aber die Menschen werden sich dieser Politik nicht beugen. Der Staat wird alles tun, um seine Vorherrschaft zu sichern. Die Gefängnisse sind einer der Bereiche, in denen diese Politik am meisten betrieben wird. Gefängnisse sind Orte, um den Willen der Menschen zu brechen, sie zu unterjochen und zu disziplinieren. Mit dem Aufkommen der apoistischen Bewegung in Ostkurdistan und im Iran wurden die Gefängnisse zu einem Ort des Kampfes und des Widerstands gegen den Staat. Persönlichkeiten wie Ferzad Kemanger und Şirîn Elemhulî, die nicht aufgaben und einen eisernen Willen hatten, versetzten der staatlichen Mentalität einen Schlag. Der schrecklichste Ort im Iran ist das Gefängnis. Wer ins Gefängnis kommt, dem wird die Fatiha vorgesagt. Die Person wird so behandelt, als käme sie nicht mehr zurück. Selbst wenn sie freigelassen wird, soll sie nicht gesund zurückkehren, sondern gebrochen. Während der sechs Monate der „Jin Jiyan Azadî“-Revolution wurden viele Menschen verhaftet und vergewaltigt.
Die Gefangenen sollen Reue zeigen und um Vergebung bitten
Es gibt eine sehr brutale Folter, die unter dem Namen des politischen Islam entwickelt wurde. Im kulturellen Islam haben diese Handlungen keine Legitimation. Viele Männer und Frauen haben deswegen Selbstmord begangen. Es werden so unmoralische Dinge getan, dass sich die Menschen umbringen, wenn sie aus dem Gefängnis kommen. In den Gefängnissen macht der Staat Politik, wie er will. Wenn dann noch erzwungene Geständnisse, Verbannungen und Angriffe auf die Familien der Gefangenen hinzukommen, wird das Ausmaß der Brutalität des Staates noch deutlicher. Die Gefangenen sollen vor allem Reue zeigen und um Vergebung bitten. All diese Angriffe werden durchgeführt, um die Menschen zu verängstigen. Mit Schikanen und Übergriffen soll Angst verbreitet werden. Aber die Menschen geben nicht auf und lassen sich davon nicht beeindrucken. Der Staat muss diese Politik hinsichtlich der Gefängnisse beenden. Er spielt mit der Wahrheit dieser Revolution. Stattdessen sollte er eine friedliche und demokratische Lösung anstreben. Vor allem müssen die Hinrichtungen beendet werden. Die zum Tode Verurteilten müssen freigelassen werden.
Inwieweit kann die Kampagne von KODAR und PJAK „Nein zur Hinrichtung, ja zur Demokratie" eine Antwort für die Gesellschaft sein?
Als Organisation haben wir die bestehenden Risiken erkannt, bevor dieser Prozess begann. Wir haben Projekte und Vorschläge entwickelt, um die Probleme der iranischen Gesellschaft zu lösen. Wir haben eine Kampagne angekündigt. Die gegenwärtige Revolution ist im Grunde eine Konsequenz dieser Kampagne. Die Menschen wollen Demokratie, um sich selbst zu regieren und ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Das iranische Volk will Selbstverwaltung und Selbstbestimmung. Alle Teile der Gesellschaft wollen ein Ende der Zentralisierung. Sie wollen ein Ende der Armut, der Arbeitslosigkeit, der Massenmorde, der Hinrichtungen, der Massaker an den Kolber und der Assimilation.
Die Sonne geht im Osten auf
Erfreulich ist, dass das iranische Volk seinen Wunsch nach Demokratie lautstark zum Ausdruck bringt. Die gerufenen Parolen bedeuten ein Nein zur Todesstrafe und zum 7.000 Jahre alten Staatsverständnis. Früher wurde darüber debattiert, ob Frauen Fahrrad fahren, ins Stadion gehen, studieren, arbeiten sollen oder nicht. Diese Revolution wird dem Iran die Demokratie bringen. Demokratie ist der Schlüssel zur Lösung aller Probleme des Iran. Es ist möglich, Unterdrückung und Repression zu beenden. Wenn hier ein ernsthafter Schritt getan wird, werden später weitere Schritte folgen. Die Sonne geht im Osten auf. Deshalb geht von hier auch Freiheit und Demokratie aus.