Tödlicher Alltag: Kolbersterben im kurdischen Grenzgebiet

43 Tote, 215 Verletzte – das ist die Bilanz der Initiative „Kolbarnews“ über den Alltag der Lastenträger im kurdischen Grenzgebiet zwischen Iran, Irak und der Türkei in 2022. Dabei ist der Warenverkehr für die Bevölkerung in Rojhilat überlebenswichtig.

Das seit Jahren andauernde Kolbersterben im kurdischen Grenzgebiet des Dreiländerecks von Iran, Irak und der Türkei ging auch 2022 weiter. Mindestens 43 Lastenträger sind laut einem Bericht der Initiative „Kolbarnews” im vergangenen Jahr in der bergigen Grenzregion zwischen den aufgeteilten Siedlungsgebieten der Kurdinnen und Kurden zu Tode gekommen, 215 weitere wurden verletzt. Die Dunkelziffer gilt allerdings als weit höher, betont der Bericht. In den letzten Jahren waren vor allem in den Frühlingsmonaten häufig Leichen von vermissten Kolbern gefunden worden, die die Schneeschmelze freigelegt hatte. Oftmals fürchten sich Lastenträger zudem vor weiterer Repression des Regimes und zögern, mit Menschenrechtsverletzungen an die Öffentlichkeit zu gehen.

Die Bilanz von Kolbarnews wurde aus allen 2022 von der Initiative erfassten oder medial veröffentlichten Fällen gezogen. Viele der getöteten Lastenträger wurden demnach Opfer von extralegalen Hinrichtungen durch staatliche Kräfte. Von insgesamt 30 Todesfällen durch Schussverletzungen gingen laut dem Bericht 29 auf das Konto von iranischen Grenzsoldaten. Ein weiterer Kolber wurde von der türkischen Armee erschossen. Die anderen Todesfälle ereigneten sich durch Stürze aus der Höhe sowie Minenexplosionen, Erfrierungen und Ertrinken. Fünf Kolber erlitten während dem grenzüberschreitenden Warenverkehr einen Herzinfarkt mit tödlicher Folge. Alle Toten seien kurdischer Herkunft gewesen.

Im Dokumentarfilm „Nur Kurden werden sofort erschossen“ erzählt der kurdische Journalist und Filmemacher Jamshid Bahrami die Geschichte der Kolber.


160 Kolber durch gezielten Beschuss verletzt

Auch bei den Zahlen der verletzten Kolber zeigt die Statistik, dass ein Großteil der Verletzungen durch Schüsse verursacht worden ist. Mindestens 160 Verwundete registrierte die Initiative im vergangenen Jahr, als Quelle dieser Attacken gelte in allen Fällen der Iran. Laut Kolbarnews patrouillierten Truppen der iranischen Revolutionsgarde als regelrechte Todesschwadronen durch die Grenzgebiete, ohne irgendeine Rechenschaft für ihre Taten ablegen zu müssen.

Zunahme der Tötung von Kolbern seit 2018

Kolber oder „Kolbar“ setzt sich aus den kurdischen Begriffen „kol“ – der Rücken, und „bar“ – die Last zusammen. Kolber leben davon, Lasten wie Haushaltswaren, etwa Matratzen oder Fernseher, Decken und Tee, über die gefährlichen Grenzen zu bringen und einen Handel zwischen den verschiedenen kurdischen Regionen möglich zu machen. Die Ware ist im Irak billiger als im Iran, der zudem einem von den USA initiierten Wirtschaftsboykott unterliegt. Bis zu 50 Kilogramm schleppen die Kolber über eisige Passrouten – oft nur in Alltagskleidung, und erhalten nur einen minimalen Tagelohn. Den weiteren Verkauf übernehmen die „Kesibkar“, die von Stadt zu Stadt reisen, um für die Waren, die von den Kolbern über die Grenze gebracht wurden, Abnehmer zu finden.

Die gezielte Tötung von Kolbern nimmt seit Ende 2018 zu. Der damals für Sicherheitsangelegenheiten zuständige stellvertretende iranische Innenminister Hossein Zolfaghari, hatte eine verfassungsfeindliche Fatwa ausgesprochen und im Grenzgebiet tätige Lastenträger als „Schmuggler, die getötet werden müssen“ bezeichnet. Das Drama der Kolber und Kesibkar, die aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Perspektiven und der hohen Arbeitslosigkeit infolge der gezielten Verarmung in Rojhilat (Ostkurdistan) unter schwierigsten Umständen ihr Leben riskieren, um wenigstens irgendein Einkommen für sich und ihre Familien zu erzielen, reißt seitdem nicht ab.

Im Jahr 2021 kamen mindestens 46 kurdische Kolber im Grenzgebiet zwischen Iran, Irak und der Türkei ums Leben, weitere 122 Lastenträger wurden verletzt. Rund die Hälfte der Todesfälle geschah damals infolge von Schussverletzungen, wie es in Berichten von Kolbarnews und kurdischen Menschenrechtsgruppen hieß. Ein minderjähriger Kolber beging Selbstmord, nachdem iranische Grenztruppen seine Maultiere beschlagnahmt hatten.