Tödliches Dilemma in Rojhilat: Kugeln und Brot

Die extralegalen Hinrichtungen von Kolbern haben in den letzten Monaten zugenommen. Während die Menschen durch die systematische Verarmung der Region zur Arbeit als Lastenträger gezwungen sind, droht ihnen dabei die Ermordung durch Todeskommandos.

Von der iranischen Grenze zwischen Ost-, Nord- und Südkurdistan gibt es im nahezu täglichen Rhythmus Meldungen über neue Angriffe von Einheiten des iranischen Regimes auf Kolber. Erst am Abend des 26. Oktobers ist bei Xoy (Khoy) an der Grenze zwischen Süd- und Ostkurdistan ein Lastenträger von iranischen Regimekräften erschossen worden. Bei dem Getöteten handelte es sich um den Kolber Edib Hisênî aus dem Dorf Bilcuki in Xoy.  Zwei Tage zuvor wurde der 26-jährige Kolber Feramerz Celî Baqwi in Salmas getötet. Sein Bruder Zakirî Celî Baqwi wurde verletzt, als staatliche Kräfte das Feuer auf eine Gruppe schwer beladener Träger eröffnete.

Seit April wurden mindestens 40 Kolber getötet, die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. Dutzende weitere wurden verletzt. Die Regime-Kräfte patrouillieren als regelrechte Todesschwadronen durch die Grenzgebiete, ohne irgendeine Rechenschaft für ihre Taten ablegen zu müssen. Im Gegenteil, diese Verbrechen werden von der iranischen Regierung sogar gefördert. So hat Hossein Zolfaghari, der für Sicherheitsangelegenheiten zuständige stellvertretende Innenminister des Iran, im Grenzgebiet tätige Kolber und Kesibkar (Grenzhändler) als „Schmuggler“ bezeichnet, die „getötet werden müssen“.

Gezielte Verarmung in Kurdistan

Das iranische Regime hat Ostkurdistan durch eine gezielte Wirtschaftspolitik verarmen lassen. Rojhilat stellt mittlerweile eine der ärmsten Regionen des Iran dar. Im Vergleich wurde in die Region am wenigsten investiert und die Entwicklung der kurdischen Gebiete absichtsvoll gebremst. Die Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie wurde verhindert, infolgedessen sind die Arbeitslosenzahlen am höchsten im Verhältnis zu den anderen Regionen im Iran.

Zwischen März 2016 und März 2017 lebten die ärmsten Familien im Iran in Ilam. Es wurde ein durchschnittliches jährliches Familieneinkommen von 4950 Euro berechnet. In Kurdistan lag das durchschnittliche jährliche Familieneinkommen bei 5035 Euro. Mit dem Wertverlust der iranischen Währung gegenüber dem Dollar sinkt die Kaufkraft des Geldes immer weiter und die Armut vertieft sich. Das zeigen sogar die zitierten offiziellen Statistiken. Es heißt allerdings, die realen Dimensionen der Armut seien weit gravierender. Einige Abgeordnete sprachen von 80 Prozent der iranischen Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze leben.

Kolber-Sein ist keine Wahl, sondern ein Mittel zum Überleben

Die Situation in Ostkurdistan ist noch dramatischer. Angesichts von Diskriminierung, Repression und gezielter Verarmung handelt es sich nicht um eine Wahl, Schmuggelware zu tragen, sondern mittlerweile um eine zwingende Notwendigkeit, um am Leben zu bleiben. Zwischen März 2016 und Februar 2017 hatten die tödlichen Angriffe auf Kolber an der Grenze einen Höhepunkt erreicht. Nach heftigen Protesten war das Regime gezwungen, Maßnahmen im Rahmen der „rechtlichen Grenzen“ zu ergreifen. Mit anderen Worten, an den Grenzen wurde Kolbern die Möglichkeit gegeben, die Grenze „legal zu überqueren“ und es wurde eine Art Passierschein für Kolber ausgegeben. Aber diese Maßnahmen wurden wieder aufgehoben, die Grenzen geschlossen, die Versprechen vergessen und die Angriffe nahmen erneut zu.

Wer und was sind Kolber und Kesibkar?

Kolber oder „Kolbar“ setzt sich aus den kurdischen Begriffen – „kol“ – der Rücken und „bar“ - die Last zusammen. Die Kolber leben davon, Lasten über die gefährlichen Grenzen zu bringen. Dabei handelt es sich vor allem um Zigaretten, Handys, Decken, Haushaltswaren, Tee und selten auch Alkohol. Sie benutzen diese gefährlichen Wege, um einen Handel zwischen Süd- und Ostkurdistan möglich zu machen. Die Waren werden in Handelszentren wie Teheran zu sehr hohen Preisen verkauft. Aber die Kolber, die ihr Leben für diese Arbeit aufs Spiel setzen, erhalten nur einen minimalen Tagelohn.

Die Kesibkar sind diejenigen, die von Stadt zu Stadt reisen, um für die Waren, die von den Kolbern aus Südkurdistan gebracht wurden, Abnehmer zu finden.

Es lassen sich unter den Kolbern und Kesibkar Menschen im Alter von 13 bis 70 Jahren finden. Es gibt welche mit Grundschul- und wieder andere mit Hochschulabschluss. Sie sind gezwungen, Lasten zu tragen, weil sie keine andere Arbeit finden. In den letzten fünf Jahren wurden um die 300 Kolber und Kesibkar kaltblütig ermordet. Eine sichere Zahl der Getöteten kann nicht festgestellt werden.