Alevitin ruft zur Selbstverteidigung auf

Ende November wurden im Viertel Cemal Gürsel in Meletî (Malatya), in dem größtenteils Alevit*innen leben, 13 Türen von Wohnungen oder Häusern sowie Fassaden mit roten Kreuzen gekennzeichnet.

Viele Spekulationen gab es zu dem Foto der Alevitin Yüksel Kalın, deren Haus im Viertel Cemal Gürsel in Meletî (Malatya) mit roten Kreuzen beschmiert wurde. Manche sagten, sie habe Angst, andere meinten, sie sei besorgt. Yüksel hingegen, die fast ihr ganzes Leben damit verbringt, gegen rassistische Übergriffe im Viertel Wache zu halten, erklärt: „Wir müssen unsere Selbstverteidigung organisieren.“

Ende November wurden im Viertel Cemal Gürsel in Meletî (Malatya), in dem größtenteils Alevit*innen leben, 13 Türen von Wohnungen oder Häusern sowie Fassaden mit roten Kreuzen gekennzeichnet. Über ein Foto von Yüksel Kalın, deren Haus man ebenfalls beschmiert hat, gab es vielerlei Spekulationen. Sie stand neben ihrer mit einem roten Kreuz beschmierten Haustur, als das Foto aufgenommen wurde. Es wurde lanciert, sie habe Angst. Tatsächlich gab sie an, gefroren zu haben. Wir trafen uns erneut mit Yüksel Kalın vor der besagten Haustur und machten uns auf eine Reise zu den vergangenen Angriffen auf Alevit*innen. Frau Yüksel beginnt, über die Ungerechtigkeiten und Massaker zu berichten, die in ihrer Erinnerung und in ihrem Herzen haften geblieben sind.

Übergriffe auf Alevit*innen, wie das Beschmieren von Wohnungs- und Haustüren oder den Fassaden, oder das Zerschlagen der Fensterscheiben des Vereins der Erlöserkirchen im Paşaköşkü Viertel, haben laut Kalın System zugenommen. „Diese Lage der Türkei macht mich traurig“, sagt sie.

“Wir verbringen unser Leben damit, Wache zu halten”

Yüksel erklärt, dass die Angriffe auf Alevit*innen in Meletî auf das Jahr 1978 zurückzuführen sind. Sie selbst sei eine Zeitzeugin der Geschehnisse von damals. „1978 wurden wir Alevit*innen für die Ermordung des Bürgermeisters von Meletî, Hamit Fendoğlu verantwortlich gemacht. Abermals war unsere Nachbarschaft zu dem Zeitpunkt intensiven Angriffen ausgesetzt. Während der sogenannten ‚Hamido-Ereignisse‘ wurden unsere Arbeitsplätze und Häuser niedergebrannt, man attackierte uns mit Steinen, wir wurden getötet. Als ich jung war, sperrten mich meine Eltern zu Hause ein, damit ich meine Geschwister beschütze, während sie im Viertel Wache hielten. Jetzt, als Erwachsene, schließe ich meine eigenen Kinder ein, um die Nachbarschaft zu bewachen. Die Situation der Alevit*innen ist wieder dieselbe. Wir verbringen unser Leben damit, Wache zu halten."

Maraş ist nicht vergessen

Yüksel betont, dass all die Angriffe geplant und dem gleichen Zweck gedient haben. Ab den 1960er bis hin zu den 90er Jahren wurde sie Zeugin aller Übergriffe auf Alevit*innen. „Auch für den Putschversuch vom 15. Juli machte man uns verantwortlich. Auch dafür wurden wir gesteinigt. Die Massaker von Maraş, Sivas und Çorum setzen sich in diesen Angriffen fort. Weder haben wir Maraş vergessen, noch die Frieden wünschenden Seelen, die in Ankara ermordet wurden.“

Drei bewaffnete Übergriffe innerhalb eines Monats

Innerhalb eines Monats hätten drei bewaffnete Übergriffe auf das Viertel stattgefunden. Über ein besonderes Ereignis, bevor die 13 Häuser von Alevit*innen mit roten Kreuzen beschmiert wurden, berichtet uns Yüksel folgendermaßen: „Einen Monat lang sammelten wir im Viertel leere Patronenhülsen auf. Ständig fuhr ein Krankenwagen seine Runde durch die Gegend. An einem Tag stoppte ich den Krankenwagen und fragte, weshalb sie im Viertel seien. Ohne zu antworten fuhren sie schnell weg. Deshalb rief ich die 112 an. Man sagte mir, dass sie keinen Krankenwagen ins Viertel geschickt hätten. Am nächsten Tag gingen Mitarbeiter der Ordnungsbehörde in einigen Häusern der Nachbarschaft ein uns aus. Auch hier habe ich auf meine Fragen keine Antworten erhalten. Am darauffolgenden Morgen bemerkten wir, dass unsere Häuser beschmiert waren.“

„Alles nur Zufälle?“

Yüksel ist der Meinung, dass all die Probleme wegen mangelnden Sicherheitsvorkehrungen verursacht werden. „Weder die Behörden noch die Sicherheitskräfte haben nach den bewaffneten Angriffen Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Dies deutet darauf hin, dass die Polizei für die Angriffe verantwortlich ist. Die Behörden behaupten, ihre Pflichten erfüllt zu haben. Aber kurz nachdem unsere Häuser beschmiert werden, findet ein Angriff auf den Verein der Erlöserkirchen statt. Sind das alles nur Zufälle?“

„Lasst uns die Hassmauer gemeinsam niederreißen“

„Über die Angriffe auf Alevit*innen darf nicht geschwiegen werden“, sagt Yüksel. Und weiter: „Nach all den Jahren der Wache ist es an der Zeit, uns selbst zu verteidigen.“

Das Gespräch beendet Yüksel Kalın mit den Worten: „Nach den Ereignissen hier sahen wir die hässlichen Beschriftungen auch in Istanbul. Gegen uns Alevit*innen wurde eine Angriffspolitik ins Leben gerufen. Wir wissen nur allzu gut, dass sich dahinter staatliche Unterstützung verbirgt. Aus diesem Grund erwarten wir keinen Schutz von denjenigen, die für uns nichts übrig haben. Kommt ihr Seelen, lasst uns eins werden. Lasst uns die Mauer des Hasses gemeinsam niederreißen.“

JIN NEWS