Im März erscheint im Unrast-Verlag der vierte Band von Abdullah Öcalans „Manifest der demokratischen Zivilisation“ mit dem Titel „Die demokratische Zivilisation – Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten“. In etwas mehr als drei Jahren (2007–2010) hat Abdullah Öcalan mit dem Manifest der demokratischen Zivilisation ein fünfbändiges Opus Magnum verfasst, in dem er seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren radikaler Theorie und revolutionärer Praxis zusammenfügt. Nachdem er in den ersten drei Bänden die Geschichte der Zivilisation von ihren Anfängen bis zur kapitalistischen Moderne neu interpretiert und mit der Soziologie der Freiheit eine Methode für die Lösung der drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts vorgeschlagen hat, wirft er im vierten Band einen näheren Blick auf die herrschenden Verhältnisse des Nahen Ostens. Dort zeigt sich heute die globale Zivilisationskrise am deutlichsten. Abdullah Öcalan legt nahe, dass dort, wo vor 5.000 Jahren die Zentralzivilisation ihren Anfang nahm, auch der Schlüssel zu ihrer Überwindung zu finden sein muss. Die demokratische Zivilisation beleuchtet die geschichtlichen Ursachen der globalen Krise genauso wie die vielfältigen Traditionen von Widerstand – religiöse, kulturelle, dezentrale – und vor allem deren Potentiale, die kapitalistische Moderne zu überwinden. Der vierte Band von Öcalans Manifest der demokratischen Zivilisation schließt mit einer Diskussion der für eine globale Transformation wesentlichen Fragen: Wie leben? Was tun? Wo beginnen?
Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug aus dem vierten Band, in dem Abdullah Öcalan die Probleme von Mehrheitsnationen in der Region behandelt:
Man kann von vier Mehrheitsnationen im Nahen Osten sprechen. Diese sind die Araber*innen, Türk*innen, Kurd*innen und Perser*innen. Dass ich anstatt von großen von Mehrheitsnationen spreche, hat mit der Demografie zu tun. Ansonsten ist es nicht ethisch und richtig, zwischen großen und kleinen Nationen zu unterscheiden. Auch der Begriff der Minderheitsnation hat mit der Demografie zu tun. Es ist eine Voraussetzung der gesellschaftlichen Wahrheit und der Ethik, dass das Minderheit-Sein nicht für einen Mangel oder für Kleinheit gehalten werden darf.
(...)
1. Die Hauptfaktoren, die die arabische nationale Frage erschweren, sind die über zwanzig Nationalstaaten, die die arabische Gesellschaftlichkeit stets zersplittern, ihren eigenen Werten entfremden, mit Kriegen aufbrauchen und ihre materiellen Werte schlucken. Diese Nationalstaaten, unter denen nicht einmal ein Konföderalismus ins Leben gerufen werden kann, sind selbst die Erzeuger der arabischen nationalen Frage. Der religionistische, Abstammungs- und Stammesnationalismus und der patriarchale gesellschaftliche Sexismus, die mit den arabischen Nationalstaaten verbunden sind, verdunkeln und ersticken den gesamten gesellschaftlichen Bereich. Sie verdammen die Gesellschaft in ihnen zu einem unheimlichen Konservatismus und zur Sklaverei. Sie erlauben Araber*innen weder für innere noch für äußere Probleme eine Chance auf eine Lösung.
Ein umfassendes Lösungsmodell für die Probleme der Araber*innen sollte auf der Grundlage der demokratischen Nation und der gesellschaftsorientierten Kommunalität gesucht werden. Die Stärke des Konkurrenten Israel rührt nicht nur von seiner Welthegemonie her, sondern auch die Institutionen der Demokratie und Kommunalität im Inneren spielen dabei eine wichtige Rolle. Die arabische nationale Gesellschaft, die die letzten hundert Jahre mit radikalem Nationalismus und Islamismus verbrachte, kann einen sicheren und langfristigen Ausweg, einen Lösungs- und Rettungsweg finden beziehungsweise zeichnen, indem sie den kommunalen Sozialismus, den sie aus ihrer Geschichte und Stammesordnung kennt, mit dem demokratischen Nationsverständnis vereint.
2. Die Türk*innen und Turkmen*innen bilden eine weitere Mehrheitsnation im Nahen Osten. Zwar leben sie im Vergleich zu Araber*innen auf einen größeren Raum verstreut, aber sie teilen mit ihnen die gleichen ideologischen und Machtkonzepte. Sie sind sehr streng national-etatistisch und erleben einen tiefverwurzelten religiösen und Abstammungsnationalismus. Genauso wie die Heiligkeit Gottes und des Staats werden auch der religionistische und der Abstammungsnationalismus ineinander verwoben gelebt. Es bestehen wichtige soziologische Unterschiede zwischen den Kategorien »türkisch« und »turkmenisch«. Die Turkmen*innen haben gegenüber der türkischen Aristokratie und den Besitzer*innen der Macht und des Staates eine ähnliche Stellung inne wie die Beduin*innen gegenüber der arabischen Aristokratie.
Die türkische nationale Frage ist ebenfalls beträchtlichen Umfangs. Von den Uigur-Türk*innen in China zu den Türk*innen unter russischer Hegemonie, die im Besitz von zahlreichen Autonomiegebieten und Staaten sind, von den Türk*innen in der Republik Türkei in Anatolien bis hin zu den Türk*innen auf dem Balkan, in Kaukasien, dem Nahen Osten und sogar in Europa, sie alle erleben nationale Probleme. Wir haben bereits gesagt, dass die Probleme ähnliche Ursachen haben. Die national-etatistische Machtkrankheit, extrem religionistischer und Abstammungsnationalismus und der patriarchale gesellschaftliche Sexismus verdunkeln auch die türkischen Gemeinschaften und machen sie konservativ. Die Gesellschaft, die Demokratie und die kommunalen Tendenzen scheinen innerhalb extrem etatistischer und hegemonialer ideologischer Monopole aufgelöst worden zu sein. Selbst die Familie ist auf eine Zelle des Staates und nicht der Gesellschaft reduziert worden. Jede Institution und jedes Individuum ahmt den Staat nach. Diese Tendenzen führen zu einem harten Machtkrieg unter den türkischen und turkmenischen Gemeinschaften. Mit der Eroberungspolitik kommt es auch zwischen ihnen und anderen Gesellschaften zu Machtkonflikten.
Wegen der streng zentralistischen Machtstrukturen und der Festgefahrenheit der offiziellen Ideologie wurde in der türkischen nationalen Frage demokratischen und kommunalen Tendenzen keine Entwicklungs- und Lösungschance gegeben. Die Botschaft an die Gesellschaft ist, dass für sie ein Leben ohne Staat unmöglich sei. Es wurde zwischen den Initiativen der Gesellschaft und der Individuen und dem Staat kein Gleichgewicht geschaffen, so dass erstere stets in der Rolle der Kinder und loyalen Sklav*innen des Staates blieben.
Heute bildet die Theorie der demokratischen Moderne den geeignetsten Rahmen für die türkischen nationalen Gemeinschaften. Das Projekt der gesellschaftsbasierten Demokratischen Türkischen Konföderation ist die ideale Idee, die einerseits die innere Einigkeit, andererseits ein Zusammenleben in Frieden und Einigkeit mit den Nachbar*innen ermöglicht. Grenzen haben ihre alte Bedeutung für gesellschaftliche Einheit verloren. Die Kommunikationsmöglichkeiten ermöglichen trotz verschiedener räumlicher Grenzen die gegenseitige Integration zwischen Individuen und Gemeinschaften in der ganzen Welt. Die Demokratische Konföderation der türkischen nationalen Gemeinschaften könnte einen großen Beitrag zum Weltfrieden und dem System der demokratischen Moderne leisten.
3. Die kurdische nationale Gesellschaft hat ihren Ursprung in einem sich neu entwickelnden, reichen Potential. Sie ist das größte Volk der Welt ohne Nationalstaat. Im Laufe der Geschichte konzentrierte sie sich im Neolithikum und in den Zeitaltern der Zivilisation in einem strategischen Gebiet. Die Kurd*innen haben dank ihrem auf den Berg fokussierten Verteidigungskonzept und ihrer Ernährungskultur, die auf Landwirtschaft und Tierzucht setzt, bis heute als ein authentisches Volk weiterbestehen können. So wie die Jüd*innen bis heute weiterbestehen konnten, indem sie sich überall in der Welt an die Spitze der Gesellschaften setzten, erreichten die Kurd*innen die Gegenwart, indem sie sich nicht vom Fleck rührten, es nicht auf die Spitze irgendeiner Gesellschaft absahen und die Geduld zeigten, unten zu bleiben. Zwischen den Jüd*innen und Kurd*innen besteht hier ein großer Kontrast.
Die kurdische nationale Frage rührt von einem sehr seltenen Faktor her, nämlich davon abgehalten zu werden, eine Nation zu sein. Die Mächte, die im Laufe der Geschichte über die Kurd*innen herrschten, und ihre Handlanger*innen im Inneren ließen nichts unversucht, um zu verhindern, dass die Kurd*innen sich von einem Objekt in ein Subjekt verwandelten. Das Staat-Sein hat zu der nationalen Entwicklung im positiven oder im negativen Sinne vielleicht etwas beigetragen. Den Kurd*innen allerdings wurde so ein Privileg sehr selten zuteil. Aus diesem Grund haben sie das Privileg, ein Volk zu sein, das die Klassenherrschaft mit staatlicher Herrschaft sehr wenig erlebt und verinnerlicht hat. In Hinblick auf die Chance der demokratischen Moderne ist dies ein sehr wichtiges Privileg. Es macht die Kurd*innen noch wichtiger, dass sie im Zentrum des Nahen Ostens ansässig sind. Die nationalstaatliche Herrschaft, die im Zeitalter der kapitalistischen Moderne von außen aufgezwungen wurde, versuchte die Kurd*innen, wo sie es vermochte, durch kulturelle Genozide und von Zeit zu Zeit durch physische Massaker aufzulösen und zu absorbieren. In der Ära der islamischen Zivilisation versuchte man, diese Politik mithilfe der Religion zu legitimieren. Die Kurd*innen besitzen nicht wirklich die Möglichkeit, mit der Stärke der Macht und des Staates das Gesellschaft-Sein zu bewerkstelligen. Was die Elemente der kapitalistischen Moderne in diese Richtung anbieten könnten, ist sehr begrenzt. Die politische Struktur, die sich heute in Irakisch-Kurdistan gebildet hat, kann man nicht im wirklichen Sinne als Nationalstaat bezeichnen. Die Bezeichnung Halb-Nationalstaat wäre ihr angemessener.
Das geografische Gebiet Kurdistan war insbesondere in der jüngsten Vergangenheit auch die Heimat anderer Völker, vor allem des armenischen und des assyrischen, auch wenn sie Minderheiten bildeten. Zahlreiche Ausläufer der Araber*innen, Iraner*innen und Türk*innen sind ebenfalls dort ansässig. Kurdistan erlebt in Bezug auf Religionen und Konfessionen eine Vielfalt. Es existieren nach wie vor starke Spuren der Aschiret- und Stammeskulturen. Die urbane Kultur hat sich nicht so sehr entwickelt. All diese Eigenschaften geben in Kurdistan demokratischen politischen Strukturen eine große Chance. Kurdistan ist ideal für kommunale Gemeinschaften in den Bereichen Landwirtschaft-Wasser-Energie, gleichzeitig stellen diese eine Notwendigkeit dar. Für die Entwicklung der moralischen und politischen Gesellschaft herrschen ebenfalls sehr günstige Bedingungen. Zudem handelt es sich dabei um das Land, in dem die Muttergöttin-Kultur als erstes und am stärksten gelebt wurde. Es bildet gleichzeitig die Hauptbasis der Muttergöttin-Kultur, die sich unter den Namen Star, Ištar und Inanna im ganzen Nahen Osten und in der ganzen Welt ausbreiten konnte. Trotz sämtlicher Bemühungen, sie zu erledigen, hat die Frau immer noch das Potential, das mutigste, widerständigste und würdevollste Leben zu führen. Trotz der ganzen Bemühungen konnte sich die Ideologie der sexistischen Gesellschaft nicht so sehr wie in den benachbarten Gesellschaften institutionalisieren. Beim Aufbau der demokratischen Gesellschaft, deren Hauptkriterium die Freiheit der Frau und ihre Gleichheit (in Unterschiedlichkeit) ist, wohnt diesen ineinander verwobenen reichen kulturellen Eigenschaften ein enormes Potential inne. Aus diesem Grund bietet Kurdistan die günstigsten Bedingungen dafür, unter dem Paradigma der demokratischen Moderne eine demokratische Nation und eine ökologisch-wirtschaftliche Gesellschaft zu bilden. Das Projekt der Demokratischen Konföderation Kurdistans kann bereits heute ins Leben gerufen werden. Die nationalstaatlichen Praktiken, die mit der kapitalistischen Hegemonie verbunden sind, haben wie gestern und heute auch morgen keine Entwicklungschance, da sie für die Gesellschaft negativ sind. Nur durch demokratische Transformation könnten sie eine begrenzte Chance haben.
Es ist von historischer Wichtigkeit, Kurdistan mithilfe demokratischer politischer Strukturen, die auf den ganzen oben aufgezählten Eigenschaften beruhen, als eine aus wirtschaftlichen und ökologischen Kommunen bestehende demokratische Konföderation zu entwickeln. Der Aufbau der auf multiplen nationalen Identitäten basierenden demokratischen Nation stellt eine ideale Lösung gegen die Sackgasse des Nationalstaats dar; es könnte ein Lösungsmodell für alle nationalen und Minderheitsfragen des Nahen Ostens darstellen. Die benachbarten Nationen für dieses Modell zu gewinnen, wird das Schicksal des Nahen Ostens verändern und der demokratischen Moderne eine größere Chance geben, eine Alternative zu sein.
Die Geschichte hat Kurdistan und die Kurd*innen in solch eine Position gebracht, dass sie gezwungen sind, eine Schicksalsgemeinschaft zwischen ihrer eigenen Freiheit und Gleichheit, ihrem eigenen Demokratisch-Sein und der Freiheit und Gleichheit und dem Demokratisch-Sein der anderen Völker in der Region herzustellen.
4. Die Probleme in der persischen beziehungsweise iranischen Gesellschaft haben ihren Ursprung in den historischen Zivilisationen und in den Bestrebungen der kapitalistischen Moderne in den letzten beiden Jahrhunderten. Im Iran existiert eine Zivilisationstradition, die von allen drei Ableitungen der sumerischen Priesterideologie beeinflusst wurde. Obwohl sie nicht die originale Identität bildeten, wurden die Zarathustra- und Mithra-Traditionen durch die islamische Version neutralisiert. Der Manichäismus, der als eine Synthese aus Judentum, Christentum und der griechischen philosophischen Schule entstand, konnte gegenüber der offiziellen Zivilisationsideologie nicht wirksam sein. Genauer gesagt konnte er nicht darüber hinausgehen, die rebellische Tradition zu nähren. Der Iran verwandelte die islamische Tradition in die Schia-Konfession, aus der er in der jüngsten Ära eine Zivilisationsideologie machte. Auch heute versucht er sich zu modernisieren, indem er die Elemente der kapitalistischen Moderne durch den Filter der Schia (als der modernistischen Form des chinesischen Konfuzianismus) laufen lässt.
Die iranische Gesellschaft ist aufgrund ihrer multiidentitären Eigenschaften in ethnischer sowie religiöser Hinsicht im Besitz einer reichen Kultur. Der Iran beherbergt alle nationalen und religiösen Identitäten des Nahen Ostens. Er hat Schwierigkeiten, diese vielfältigen Identitäten alleine durch die Hegemonie der religionistischen und Abstammungsideologien zusammenzuhalten. Er betreibt eine sehr feine Form des religionistischen und Abstammungsnationalismus. Obwohl er die kapitalistische Moderne praktiziert, schreckt er andererseits nicht davor zurück, antimodernistische Propaganda zu betreiben, wenn es ihm gelegen kommt. Er hat sich meisterhaft darauf spezialisiert, revolutionäre und demokratische Entwicklungen in der traditionellen Zivilisationskultur aufzulösen. Es handelt sich dabei auch um die meisterhafte Umsetzung eines despotischen Regimes. Der Iran stellt einen der widersprüchlichsten und spannungsgeladensten Staaten und Gesellschaften des Nahen Ostens dar. Obwohl die Erdölressourcen zu einer gewissen Minderung der Spannungen führen, ist das Dasein des iranischen National-Etatismus besonders dazu geeignet, auseinanderzufallen. Dabei spielen die Dissonanzen zwischen ihm und dem Hegemoniestreben von USA und EU, den Hauptakteuren der kapitalistischen Moderne, eine recht große Rolle.
Wenn die Theorie der demokratischen Moderne erfolgreich auf die gesellschaftlichen Probleme im Iran angewandt wird, kann sie bedeutende Folgen haben, die zu Lösungen führen. Trotz seiner ganzen zentralistischen Bemühungen lebt sozusagen unterschwellig auch ein föderaler Iran. Wenn die Elemente der demokratischen Zivilisation und die föderalistischen Elemente (Aserbaidschaner*innen, Kurd*innen, Araber*innen, Belutsch*innen, Turkmen*innen) zusammenkommen, kann die Demokratische Konföderation Irans Bedeutung erlangen und ohne Weiteres zu einem Anziehungszentrum werden. Im Rahmen dieses Projektes werden die Frauenbefreiungsbewegung und die kommunalen Traditionen auch eine wichtige Rolle spielen. Der Iran kann seine strahlende Zukunft und seine historische Rolle im Nahen Osten nur dadurch zurückerlangen, dass ihm eine Integration mit den Elementen der demokratischen Moderne (der demokratischen, wirtschaftlichen und ökologischen Gesellschaft) und ein Aufbruch gelingt. Das Potential der iranischen nationalen Gesellschaft ist dazu stark genug, und die Wirklichkeit der iranischen demokratischen Nation erfordert das.
Die Leseprobe erschien zuerst im Kurdistan-Report