Der Konflikt im Nahen und Mittleren Osten wird aufgrund seiner Internationalisierung immer wieder auch als Ausdruck des Dritten Weltkriegs betrachtet. Cafer Şervan hat sich als Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) im ANF-Gespräch zur politischen Perspektive und Entwicklung der Region im Kontext der Geopolitik geäußert. Er warnt vor noch größeren Zerstörungen in Mittelost durch diesen Konflikt der globalen Hegemonialmächte.
Was ist der Charakter des Dritten Weltkriegs, den die Hegemonialmächte führen, und was sagt uns das über das System aus, das geschaffen werden soll?
Die kapitalistische Globalisierung und die neue Weltordnung dringen in alle Bereiche und versuchen sie unter Kontrolle zu bekommen. Der Verlauf der Kriegsfronten hat sich geändert. Es liegt im Interesse der Kräfte der kapitalistischen Moderne, dass sich die Widersprüche und Auseinandersetzungen zwischen den Hegemonialmächten als langandauernde Kriege niedriger Intensität manifestieren. Der Dritte Weltkrieg im Nahen und Mittleren Osten wird mit voller Geschwindigkeit weitergehen. Die Konflikte der USA mit Russland und China werden keine neuen Entwicklungen für die Region bereithalten, sie werden nur noch mehr Zerstörung und Tod bringen. Wirkliche Neuerungen und ein neues System werden nicht von den kapitalistischen Kräften geschaffen, sondern von den Bewegungen, die den Kampf der Völker anführen. Es ist klar geworden, dass im Irak und in Syrien keine neuen politischen Systeme etabliert werden können, ohne den Willen der Völker zu berücksichtigen.
Im aktuellen Chaos und Konflikt scheint auch der türkische Staat aktiv zu sein. Wie weit kann das gehen?
Die AKP/MHP-Regierung setzte alle Möglichkeiten des Staates ein, um neue Kolonien im Nahen Osten und im Kaukasus zu schaffen. Obwohl die Türkei von einer Vielzahl von tiefgreifenden Krisen gebeutelt wird, versucht sie sich an den Verteilungskämpfen der Hegemonialmächte zu beteiligen. Die internationalen Kräfte haben der türkischen Regierung jedoch nicht erlaubt, neue Kriegsfronten zu eröffnen. Sie haben die militärischen Aktivitäten der Türkei in Libyen, Afghanistan und dem östlichen Mittelmeer eingeschränkt und die türkische Regierung gezwungen, einen Schritt zurückzugehen.
Das mag in diesen Bereichen so sein. Die Angriffe auf die Kurd:innen reißen jedoch nicht ab. Warum?
Da die Türkei Mitglied der NATO ist, stellen die USA und die europäischen Staaten alle Arten von logistischer und waffentechnischer Unterstützung in den Dienst der völkermörderischen Politik der Türkei gegenüber dem kurdischen Volk. Die NATO hält daran fest, die Türkei immer wieder gegen Russland und die demokratischen Kräfte im Nahen und Mittleren Osten einzusetzen. Die NATO ist bereit zu schweigen, wenn die AKP/MHP-Regierung die Kräfte in Rojava angreift, die dem IS den Todesstoß versetzt haben.
Das kurdische Volk und die PKK sind die führenden Kräfte im Kampf für Demokratie und Freiheit im Nahen und Mittleren Osten. Die Türkei greift eine Kraft an, auf der die Hoffnungen der Völker auf Freiheit liegen, und wird dabei von der NATO unterstützt. Es ist daher wichtig, den faschistischen türkischen Staat ins Visier zu nehmen, und dass sich die Kurd:innen nicht auf das kapitalistische System stützen, sondern ihren Kampf auf der Grundlage ihrer eigenen Kraft dauerhaft fortsetzen.
Wird die Rojava-Revolution neue Revolutionen im Nahen und Mittleren Osten auslösen?
Die Staaten halten mit aller Kraft an ihrem hegemonialen Status Quo über Kurdistan fest. Sie wollen nicht, dass sich die Balancen verschieben. Auch die internationalen Mächte sind sich in Bezug auf den kurdischen Freiheitskampf mit den Staaten der Region einig. Die Türkei, der Iran, der Irak und Syrien können alle Widersprüche und Konflikte beiseitelegen und gemeinsam handeln, wenn es gegen kurdische Forderungen und Widerstand geht. Jetzt ist es schwer für sie, sich wie zuvor zusammenzuraufen. Die Widersprüche zwischen ihnen haben zugenommen. In dieser Hinsicht ist es für sie schwierig geworden, gemeinsam gegen unsere Bewegung zu arbeiten. Mit der Rojava-Revolution haben die Kurd:innen ein wichtiges Niveau erreicht, um zusammen mit den Völkern der Region gegen die Besatzungsmächte vorzugehen. Die Probleme zwischen Kurd:innen und Araber:innen werden immer mehr gelöst. Der Irak hat auch die kurdische Frage bis zu einem gewissen Grad lösen können. Ein irakischer Staat, der die kurdische Frage vollständig löst, kann keine antikurdische Partnerschaft mit dem türkischen Kolonialismus eingehen. Sowohl die konkrete Realität vor Ort als auch die kurdisch-arabischen Beziehungen, die in der Rojava-Revolution entstanden sind und ein strategisches Niveau erreicht haben, bilden die Grundlage einer kurdisch-arabischen Allianz, die sich langfristig verbreiten wird.
Die Rojava-Revolution ähnelt weder den Volksbewegungen in Afghanistan noch denen im Nahen Osten. Internationalistische Kräfte aus der ganzen Welt eilten herbei und beteiligten sich, die Revolution wurde zu einer Repräsentation der gesamten demokratischen und fortschrittlichen Menschheit. Es handelt sich um eine Revolution, die auf jeder Ebene für die Völker eintritt und auf dieser Grundlage die Selbstverteidigung aufbaut. In diesem Sinne spielt die Revolution von Rojava eine Avantgarderolle im Widerstandskampf der Völker des Nahen Ostens. Die Revolution von Rojava wurde durch die Ideen und die Philosophie von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] ins Leben gerufen und beeinflusst die Völker der gesamten Region. Die Revolution fand als Aufbauprozess statt und ist nun in der Selbstverwaltung und der Selbstverteidigung konkret geworden.
Demokratie wird als grundlegender Ansatz bei allen sozialen Organisations- und Aufbauarbeiten in Rojava betrachtet. Das ist eine wichtige Entwicklung, an der sich die Völker ein Beispiel nehmen. Insbesondere im Bereich der Frauen und der Jugend wurden mit der Revolution große Erfolge hinsichtlich von Bildung und Organisierung geschaffen.
Wie beurteilen Sie die Widersprüche zwischen den USA und der Türkei und die Beziehung zu Russland?
Der AKP/MHP-Faschismus spielt immer das gleiche Spiel, aber diesmal wurde er auch von seinem strategischen Verbündeten, den Vereinigten Staaten, vorgeführt. Die Türkei wird nicht wie früher Unterstützung finden können. Erdoğan hatte große Vorbereitungen getroffen, bevor er in die USA reiste. Er hat viel investiert, um ein Treffen mit Joe Biden zu bekommen, und einen großen Betrag aus der Staatskasse abgeführt, um sein Buch zu präsentieren. Es sollte eine One-Man-Show werden. Schließlich traf sich Biden nicht mit ihm. Es fanden Gespräche auf niedrigstem Niveau statt und er wurde mit leeren Händen wieder nach Hause geschickt. Bidens Bestehen auf einer Fortsetzung der US-Präsenz in Nord- und Ostsyrien und der Hinweis, die Türkei stelle eine Bedrohung im Kampf gegen den IS dar, sind Signale eines bedeutenden Politikwechsels.
Da Erdoğan von den USA nicht bekam, was er wollte, eilte er sofort nach Russland. Wie sich herausstellte, bekam er auch von dort nicht die Unterstützung, die er braucht. Die Türkei hatte Russlands Wünsche nicht erfüllt. Sie hatte überall mit ihren Söldnertruppen angegriffen und das Abkommen mit Moskau gebrochen. Die Idlib-Frage wird immer stärker auf die Tagesordnung kommen und Russland wird gemeinsame Operationen mit dem Regime starten. Es ist offensichtlich, dass eine solche Offensive auch vom Iran unterstützt werden wird.
Warum versucht Erdoğan, auch die Beziehungen zu den arabischen Staaten wieder zu normalisieren?
Mit Zustimmung und unter Druck der USA versucht Erdoğan, wieder positive Beziehungen mit Ägypten, Saudi-Arabien und anderen arabischen Staaten aufzubauen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Anstrengungen der Türkei zu betrachten, die arabischen Stämme im Nordosten Syriens von der Selbstverwaltung zu isolieren und Widersprüche zu kreieren. Das kann gefährliche Folgen haben.
Was kann die Selbstverwaltung dagegen unternehmen?
Die Intensität der diplomatischen Beziehungen der Selbstverwaltung zu den arabischen Ländern wird diesen Prozess umkehren. In dieser Hinsicht werden die Beziehungen und Vereinbarungen, die von der Selbstverwaltung Nordostsyriens mit Russland geschlossen wurden, auch die Pläne des türkischen Staates stören. Russland wird niemals eine strategische Beziehung zum türkischen Staat aufbauen, wie sie zum syrischen Regime besteht. Russland wird immer Zugeständnisse verlangen. Für die Selbstverwaltung ist in den Beziehungen mit der russischen Seite allerdings relevant, dass diese versucht, mit einer Bündnispolitik von den Konflikten und Kämpfen zwischen den bestehenden Staaten zu profitieren. Die Offensiven des Regimes auf Idlib und Daraa dürften zudem die Strategie des Drucks auf Rojava erhöhen.
Was erwartet die Völker des Nahen Ostens 100 Jahre nach dem Abkommen von Lausanne?
Die durch den Vertrag von Lausanne festgelegten Grenzen sind offiziell, aber es gibt tatsächlich Veränderungen und Besetzungen in vielen Bereichen. Die türkischen Versuche, irakisches und syrisches Territorium mit Zustimmung und Unterstützung der NATO zu besetzen, sind klarer Ausdruck davon. Auch wenn gerade versucht wird, taktische Veränderungen vorzunehmen und neue Balancen zu etablieren, geht der Dritte Weltkrieg mit seinem Zentrum im Nahen und Mittleren Osten weiter. Im Irak und Syrien werden sich die Kämpfe und Widersprüche am meisten verschärfen. Die regionalen Hegemonialmächte werden weiterhin versuchen, diese Gebiete im Sinne ihrer eigenen Interessen zu benutzen. Die jüngsten Wahlergebnisse im Iran und im Irak werden daran nichts ändern. Die USA haben die Zahl der Streitkräfte im Irak reduziert und werden das Gebiet der PDK in Südkurdistan stärker nutzen. Der Iran und die Türkei könnten im Rahmen eines Plans, an dem die USA beteiligt sind, in einen Konflikt geraten. Mit dem Rückzug der USA aus Afghanistan nahmen die Widersprüche zwischen diesen beiden Mächten zu. Beide agierten dort auf eine entgegensetzte Weise. Die militärischen Aktivitäten des Iran an seiner Grenze zu Aserbaidschan deuten darauf hin, dass der Konflikt bereits begonnen hat. Der Iran will seinen Einfluss im Nahen und Mittleren Osten stärken und vor allem seine Wirkmächtigkeit in Syrien und im Libanon, aber insbesondere im Irak, erhöhen, um so gegen die Politik der USA und Israels vorzugehen. Daher ist davon auszugehen, dass eine Zeit der strategischen Abrechnung auf den Territorien des Iraks und Syriens beginnen wird.
Das Bündnis AKP-MHP-Ergenekon will die Region auf der Grundlage des osmanischen Nationalpakts beherrschen. Der türkische Staat hat eine Aktualisierung des Lausanner Abkommens auf die Tagesordnung gebracht, und will auf diese Weise ehemaliges osmanisches Territorium zurückgewinnen. Die Türkei nimmt das kurdische Volk und seine Freiheitsbewegung, Lichter der Hoffnung für die Völker des Nahen und Mittleren Ostens, ins Visier. Das faschistische Duo Erdoğan-Bahçeli wird mit seinen Versuchen, das Imperium wieder aufzubauen, das gleiche Ende finden wie das Duo Enver und Talat [Haupttäter des Genozids an den Armenier:innen]. Dadurch werden auch die Völker des Region Erleichterung erfahren. Der faschistische türkische Staat befindet sich in einem inneren und äußeren Zerfallsprozess. Er versucht sein Leben durch Kriegstreiberei, Nationalismus und Rassismus zu verlängern. Aber die Freiheitsguerilla lässt den Krieg sowohl auf technischer als auch auf psychologischer Ebene scheitern. Es besteht nicht mehr die Möglichkeit, die Söldnergruppen in Syrien wie früher zu nutzen. Aufgrund der fortschreitenden internationalen Isolation bietet sich der Türkei auch in diesem Bereich kaum Raum zum Manövrieren. Im Inland hat eine Zeit begonnen, in der Recht und Gerechtigkeit vollkommen ausgehebelt sind und die ökonomische Abhängigkeit von außen immer weiter in den Vordergrund tritt.