In den vergangenen Wochen hat der türkische Staat seine Angriffe auf Nordostsyrien und Rojava massiv ausgeweitet, gezielte Mordanschläge mit Drohnen, auf Führungspersönlichkeiten der Verteidigungskräfte ausgeführt und Zivilist:innen bei Artillerie- und Luftangriffen getötet. Im zweiten Teil des Gesprächs mit Salih Muslim, langjähriges Vorstandsmitglied der nordsyrischen Partei für eine Demokratische Einheit (PYD), bewertet der Politiker diese Angriffe und beschreibt mögliche Perspektiven für die Region.
Es kommt in letzter Zeit zu heftigen Angriffen auf Rojava und Başûrê Kurdistanê [Südkurdistan]. Welche Strategie verfolgt die PYD demgegenüber?
Sowohl die PYD als auch die Menschen in Başûrê Kurdistanê oder in der Diaspora wissen, was der türkische Staat mit seinen Angriffen beabsichtigt. Alle Angriffe sind Teil desselben Konzepts, des „Niederwerfungsplans“ [2015 beschlossener Plan des türkischen Staates, der auf ein Ende des Friedensprozesses abzielte und eine vollständige Vernichtung der kurdischen Freiheitsbewegung beinhaltet]. Die kurdische Freiheitsbewegung, das kurdische Volk und seine Führung sollen in die Knie gezwungen und zerschmettert werden. Dieser Plan ist nicht auf eine Organisation oder die PKK beschränkt. Wo immer es Kurdinnen und Kurden gibt, die sich wehren, sollen sie niedergeworfen werden. Die kurdische Gesellschaft soll führungslos gemacht und ohne Avantgarde zurückgelassen werden. Das ist der Plan. Alle existierenden Strukturen sollen unterdrückt werden. Ob in Rojava oder ganz Nordostsyrien, ob in Başûrê Kurdistanê oder in der Diaspora, der Plan umfasst alle Bereiche. Das ist der Kontext, in dem die Angriffe betrachtet werden müssen, und auf dieser Grundlage sollten Maßnahmen ergriffen werden.
Es findet eine intensive psychologische Spezialkriegsführung statt. Araber, die in die Türkei wollen, werden von türkischen Soldaten gefoltert und ermordet, während Kurden durchgelassen werden. Worum geht es dabei?
Der türkische Staat will hier ein Gebiet ohne Kurden schaffen, also ein Kurdistan ohne Kurden. Und wenn es hier noch Kurden gibt, dann müssen sie unter seinem Befehl stehen. So ein Kurdistan wollen sie, sei es in Rojava oder anderswo. Er führt seinen psychologischen Krieg überall, in Nordkurdistan wie auch im Süden und in Rojava. Da Rojava für andere Kräfte offener ist und widerstanden hat, ist es hier etwas heftiger.
Viele dschihadistische Schläferzellen hier haben Beziehungen zur Türkei. Die Türkei führt einen intensiven Spezialkrieg über virtuelle Medien. Leider wird ein großer Teil dieses Kriegs von Kurden geführt, die als Agenten gekauft wurden. Es geht dabei darum, die kurdische Bevölkerung von hier zu vertreiben und eine andere Bevölkerung anzusiedeln. Dass Araber nicht über die Grenze gelassen werden, hat genau damit zu tun. Es wird ihnen klar gemacht, dass sie bleiben sollen, aber die Kurden sollen verschwinden. Das ist langfristiger Plan. Wie Sie wissen, wurden bereits zu Beginn der Auseinandersetzungen in Syrien im Jahr 2011 Lager in der Türkei errichtet. Der türkische Staat lud alle ein, in diese Lager zu kommen. Er versuchte, die Kurdinnen und Kurden von hier wegzubringen und an ihrer Stelle eine turkmenische, uigurische und arabische Bevölkerung anzusiedeln. Jetzt ist die afghanische Bevölkerung auf der Flucht und er will sie in Kurdistan ansiedeln. Das ist bereits in der Vergangenheit geschehen und ein Teil des genannten Konzepts.
Insbesondere in Rojava geht es bei dem Spezialkrieg auch darum, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzubringen. Bei der armenischen Bevölkerung und den Suryoye handelt es sich um Überlebende des osmanischen Genozids. Der türkische Staat führt überall psychologischen Krieg, überall sollen die Schläferzellen aktiv werden. Er will, dass die hier übrig gebliebenen Menschen auch noch verschwinden.
Wie Sie sehen können, finden von Şehba bis Efrîn und von Girê Spî bis Serêkaniyê und Til Temir täglich Artillerieangriffe statt. Es werden Artillerie, Raketen und Drohnen eingesetzt. Auch das dient der Vertreibung. Ich denke, die Leute hier haben das jetzt erkannt und sie leisten Widerstand. Am Ende werden wir gewinnen, weil es hier eine Bevölkerung gibt, die sich sicher in ihrem Widerstand ist, ob es nun Kurden, Araber oder Assyrer sind. In Til Temir und Zirgan kehren die Menschen trotz des täglichen Beschusses in ihre Dörfer zurück.
Es gibt Berichte, dass wieder Treffen zur kurdischen Einheit stattfinden sollen. Es soll demnach eine US-Delegation mit diesem Ziel in der Region sein. Sind denn solche Treffen angesichts der Lügenpropaganda des ENKS, mit der die Menschen zur Rückkehr ins türkisch besetzte Efrîn aufgerufen werden, überhaupt möglich?
Wir sprechen von kurdischer Einheit. Zumindest sollten die Kurdinnen und Kurden solidarisch sein und eine gemeinsame Linie ziehen, grüne Linien und rote Linien. Es sollte klar sein, dass man dem Feind keinen Dienst leistet und sich nicht auf seine Spiele einlässt. Dazu sollte es eine gemeinsame Position geben. Leider ist es aber nicht so. Bisher betrachten manche Kräfte den türkischen Faschismus nicht als Feind. Sie fallen auf die Täuschungen der Türkei herein und trösten sich mit taktischen Spielchen, es gehe gegen die PKK oder gegen die PYD. Das entspricht jedoch nicht der Realität. Wir haben das in Efrîn und an vielen anderen Orten gesehen und wir sehen es in Südkurdistan. Es geht nicht um die PKK, es geht nicht um die PYD. Es geht darum, dass hier ein bestimmter Plan umgesetzt wird. Es soll hier keine Kurden mehr geben, denn der türkische Staat meint, wenn die Kurden heute nicht aufwachen, könnte das morgen geschehen und ihm Probleme bereiten. Darauf fallen hier einige Kurden immer noch rein. Es mag sein, dass es im ENKS ein paar Menschen gibt, die den türkischen Faschismus als Feind erkannt haben, aber sie haben nicht den Mut, sich gegen diesen Feind zu stellen und für Einheit einzutreten. Sie haben keinerlei Selbstvertrauen. Dieser Mangel an Vertrauen ist gleichbedeutend mit einer Niederlage. Wenn man sich zum Widerstand entscheidet, leistet man den mit den Möglichkeiten, die man zur Verfügung hat. Man darf niemals aufgeben.
Das sehen wir auch in Başûr. Warum helfen sie [die PDK] dem türkischen Staat? Für ihren eigenen Vorteil, für ein paar Millionen Dollar… Das ist eine Frage der Würde für das kurdische Volk. Man muss das erkennen. Einige von ihnen sind zu Gefangenen des türkischen Faschismus geworden. Sie können keine eigenen Entscheidungen mehr treffen. Sie stellen sich hin und sagen, es werde keinen Krieg unter Kurden geben, aber sie machen genau das Gegenteil. Das bedeutet, die Entscheidungsgewalt liegt nicht mehr bei ihnen. Wir müssen sie aus dieser Gefangenschaft befreien. Das ist unsere Verantwortung. So muss man das betrachten.
Wir glauben nicht, dass der ENKS frei agiert. Ein paar von ihren Persönlichkeiten befinden sich in dieser Art von Gefangenschaft und können nicht die Wahrheit sagen. Bisher kommentieren sie alles, was hier geschieht, nach dem Wunsch des Feindes. Sie sehen, was in Efrîn geschieht, und stellen sich hin und sagen, die Menschen sollen nach Efrîn zurückkehren. Warum sind die Menschen denn geflohen? Der Grund ist die türkische Besatzung.
Wenn man wirklich will, dass die Menschen zurückkehren, dann müssen die Gründe für ihre Flucht beseitigt werden. Die Besatzer müssen verschwinden. Von einigen Leuten wird die Propaganda verbreitet, dass dort Häuser und Dörfer für die Menschen gebaut wurden. Die Menschen wollen das jedoch nicht, sie wollen in ihre eigenen Häuser zurückkehren. Ihre Häuser wurden besetzt. Von Damaskus bis al-Gouta, von allen Ecken und Enden der Welt hat der türkische Staat Menschen hergebracht und sie in ihren Häusern angesiedelt und ihnen ihre Felder überlassen. Ohne dass die Besatzer verschwinden, werden die Menschen nicht zurückkehren. Dass sagen die Kurdinnen und Kurden aus Efrîn ganz klar. Sie erklären, wenn sie zurückkehren, dann in ihre Häuser. Auch wenn sie in Şehba in Zelten oder irgendwelchen Ruinen wohnen, bleiben sie hier. Sie sagen: „Dann haben wir uns wenigstens nicht der Besatzung und den Söldnern gebeugt.“ Die Propaganda des ENKS ist eine sehr falsche Sache. Es wäre besser, wenn der ENKS damit aufhören würde.
Und er sollte zu den Gesprächen zurückkehren. Darum bemühen wir uns. Wie viel er auch immer von uns will, wir werden soweit wie möglich auf ihn zugehen. Das ist unsere Perspektive. Wir treten immer für einen Dialog ein. Ich befasse mich damit allerdings nicht persönlich. Die Parteien der nationalen Einheit (PYNK) haben eine Kommission dafür, aber ich verfolge das Geschehen nur. Ich glaube, die Gespräche könnten wieder beginnen. Die USA sind hier und versuchen, mit beiden Seiten zu verhandeln und sie einander näherzubringen. Wenn sie wirklich eine Annäherung und eine Lösung wollen, werden sie einige Fakten akzeptieren müssen. Wenn man bis heute darauf besteht, die Türkei nicht als Besatzer zu bezeichnen, dann wird klar, dass man keine Lösung will. Wenn man sagt, dass die Autonomieverwaltung unterworfen werden muss, dann heißt das, dass eine Lösung nicht gewollt ist. Kurden, Araber und Suryoye feiern das dritte Jahr der Selbstverwaltung von Raqqa, Deir ez-Zor und Tabqa. Wenn man sich hier mit einer klaren Politik beteiligen will, dann ist das möglich. Aber wenn man alles zerstören will, dann ist das inakzeptabel. Ich denke, bald werden neue Gespräche beginnen.
In Daraa und anderen Gebieten Syriens gibt es auch Debatten um Autonomie. Welchen Einfluss hat das Modell der Demokratischen Autonomie in Nordostsyrien auf das ganze Land?
Beim Aufbau dieses Modells in den Jahren 2013 bis 2015 und bei der Erweiterung der Autonomieverwaltung im Jahr 2018 haben wir dieses Modell immer als ein Modell nicht nur für unsere Region, sondern für ganz Syrien betrachtet. Es kann in ganz Syrien angewandt werden. Syrien ist aufgrund der ethnischen und religiösen Vielfalt ein Mosaik. Dieses Mosaik zusammenzubringen, ist durch Autonomie auf der Grundlage der Philosophie einer demokratischen Nation möglich.
Dieses Modell hat nicht nur für Syrien Gültigkeit, sondern für den gesamten Mittleren Osten. In jedem Land hier gibt es Bevölkerungsmosaiken, ob in Syrien, der Türkei, im Iran, wohin man auch schaut. Die Philosophie der Demokratischen Nation ist die einzige Lösung. Jetzt sehen die Menschen dieses Modell in der Praxis und beschäftigen sich damit. Das gleiche gilt für Daraa und Suweida. Auch in Latakia und manchen anderen Orten gibt es Menschen, die so denken. Wir führen viele Gespräche und versuchen, die Menschen zu überzeugen. Der Demokratische Syrienrat (MSD) besteht aus verschiedenen Parteien, auch Menschen aus anderen Regionen. Sie sehen täglich, wie das Modell funktioniert. Deshalb sehnen sich alle nach diesem Projekt. Unser Projekt gilt ganz Syrien. Ich denke, die Zukunft wird zu Gunsten dieses Modells sein. Es hat auch sonst niemand ein tragfähiges Projekt.