Der Prozess der Kritik und Selbstkritik innerhalb der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der Grünen Linken (YSP) nach dem Wahlsieg des AKP/MHP-Regimes hält an. Obwohl die demokratische Opposition trotz Betrug und Manipulation durch das Erdoğan-Lager in Kurdistan gut abgeschnitten hatte, blieb sie insgesamt hinter den Erwartungen zurück. In den letzten Monaten fanden zahlreiche Volksversammlungen statt, auf denen Kritikpunkte an den Parteien gesammelt und Selbstkritik geübt wurden. Nun werden Konsequenzen gezogen. Der Istanbuler YSP-Abgeordnete Cengiz Çiçek wies im Gespräch mit ANF darauf hin, dass eine bedeutende Kritik an der HDP die Entwicklung hin zu einer Partei der Mittelklasse betrifft.
„Tatsächlich wurde diese Kritik nicht zum ersten Mal geäußert, und sie kam nicht nur von der Bevölkerung“, erklärte Çiçek. „Innerhalb unserer organisierten Strukturen gab es bereits seit geraumer Zeit Wahrnehmungen und Diskussionen in diese Richtung. Doch relative Wahlerfolge verhinderten, dass sich diese Diskussionen vertieften und die Kritik sichtbar wurde. Wir lehnen diese Fokussierung auf Wahlergebnisse ab. Wahlergebnisse sind definitiv nicht der einzige Maßstab für den Kampf. Aus dieser Kritik werden wir unsere weiteren Schritte ableiten.“
„Prozess der Kritik und Selbstkritik ebnet uns den Weg und verleiht uns Stärke“
Çiçek unterstrich, dass das Volk selbst immense Opfer gebracht hat und die Menschen selbst politische Subjekte sind. Die Forderungen der Menschen seien klar. Es gehe im Kern um eine Kritik am Verständnis von „Sozialität ohne Gesellschaft“ und „für das Volk, aber entgegen dem Volk“. Er erklärte: „Als eine Struktur, die ihre Werte als Volksbewegung erkämpft hat, wird uns der gemeinsam mit unserem Volk durchgeführte Prozess der Kritik und Selbstkritik unter diesen schwierigen Bedingungen Stärke verleihen und den Weg ebnen. Es ist eine Tatsache, dass wir lange Schwierigkeiten hatten, direkte Beziehungen zu unserem Volk aufzubauen. Die öffentlichen Versammlungen sind in diesem Prozess äußerst wichtig, insbesondere im Hinblick auf die Prinzipien, auf denen die neue Phase des Kampfes aufgebaut wird. Bereits die Volksversammlungen und Diskussionen, sind praktische Kritik an der vorrangegangenen Phase. Wenn wir diese Haltung als Grundlage nehmen und daran festhalten, wird dies mittel- und langfristig einen historischen Beitrag zu unserem Kampf leisten.“
Cengiz Çiçek ist neben seiner Abgeordnetentätigkeit zugleich Ko-Sprecher des HDK (Demokratischer Kongress der Völker). Dabei handelt es sich um ein Organisierungsgremium hunderter Gruppen und politisch Handelnden, aus dem die HDP 2012 hervorgegangen ist.
„Die Menschen haben enorme Opfer gebracht und sind selbst zu politischen Akteuren geworden“
Çiçek bezog sich auf den tragischen Tod von zwei Friedensmüttern, die kürzlich auf dem Rückweg von einem Verhör in Gever (tr. Yüksekova) bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, und äußerte sich dazu: „Die Realität der Menschen in unserem Land ist genauso schmerzhaft wie die der Friedensmütter, die vor Kurzem bei einem Verkehrsunfall in Gever ums Leben gekommen sind. Die Menschen tragen eine enorme Verantwortung. Sie haben große Opfer erbracht und sind selbst zu politischen Akteuren geworden. Was sie von ihrer Partei erwarten, ist ein Verhalten, das dieser Realität entspricht. Die Menschen haben ihren Widerspruch gegen eine Vertretung zum Ausdruck gebracht, die über sie hinweg handelt und sie fernhält. So etwas spüren die Menschen deutlich. Während das Volk an der Richtigkeit und Legitimität unseres Kampfes festhält, kritisiert es den Zustand der Entfremdung von dessen Realität. Der Kern der Kritik richtet sich gegen das Verständnis und den Ansatz von ‚Sozialität ohne Gemeinschaft‘ oder ‚für das Volk, aber gegen das Volk‘. Zwar gibt es ernsthafte Kritik an der Art und Weise, wie wir den Wahlprozess und unsere Entscheidungen in diesem Kontext gestaltet haben, aber sie beschränkt sich nicht darauf. Die Kritik betrifft vor allem auch unsere Mängel in Bezug auf die moralischen und politischen Werte des kurdischen Volkes, insbesondere hinsichtlich der Totalisolation von Abdullah Öcalan. Die Menschen haben Vorschläge gemacht, wie wir aus dieser Lage herauskommen können.“
„Kritiken werden nun in der Kongressphase umgesetzt“
Çiçek betonte, dass die Kritiken nun nach der Phase der Volksversammlungen in den Kongressen umgesetzt würden. Er berichtete über die Entwicklungen in der HDP und der Grünen Linkspartei, kritisierte aber auch, dass bestimmte Probleme weiterhin Bestand hätten: „Wir arbeiten nun daran, die Kritiken und Selbstkritiken, die bei den Volksversammlungen direkt nach den Wahlen geäußert wurden, in den Kongressen zusammenzuführen und im Prozess der Neustrukturierung umzusetzen. Wir befinden uns derzeit in dieser Kongressphase. Die Themen, die auf unseren Konferenzen erörtert werden, werden durch die Ergebnisse der genannten Volksversammlungen und Diskussionen bestimmt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir möchten, dass alle Kräfte, die die Partei ausmachen, ihr Charakter verleihen und sie unterstützen, diesen Kongressprozess mittragen und sich darin organisieren. Wir sind uns bewusst, dass ein gesunder und konsequenter Prozess der Selbstkritik nach den Wahlen nur auf diese Weise möglich sein wird. Auch wenn es noch einige Problembereiche gibt - was ganz normal ist - können wir ohne Zweifel feststellen, dass wir einen der demokratischsten und qualifiziertesten Kongressprozesse erleben. Das betrifft sowohl das Niveau der kollektiven Diskussion, die Beteiligung sowie die Tiefe und Qualität der Diskussionen. Auch wenn dieser Prozess nicht frei von Schwächen ist, zeigt er doch die Entschlossenheit, die aufgezeigten Defizite zu überwinden.“
„Mangelhafte Umsetzung der Partizipation führte zu Elitismus und Bürokratisierung“
Einen wichtigen Punkt der Kritiken stelle laut Çiçek die mangelhafte Umsetzung der Partizipationsrechte in der Partei dar. „Gerade hierzu gibt es einen realistischeren und selbstbewussteren Diskussionsprozess als in der Vergangenheit. Die entsprechenden Kritiken kommen nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch aus unseren Gremien und von den Arbeiter:innen der Partei. Im Zusammenhang mit dem Komponentenrecht kann Folgendes gesagt werden. Zunächst einmal sind wir als Mitglieder und Einzelpersonen verpflichtet, diese Regel gemeinsam zu definieren und ihre praktische Umsetzung festzulegen. Wie bereits erwähnt, haben wir zwar einen sehr produktiven Diskussionsprozess geführt, aber das bedeutet nicht, dass wir in allen Fragen einer Meinung sind. Aber unser gemeinsames Verständnis wächst im Vergleich zur Vergangenheit. Außerdem kommen wir nicht mehr umhin, ein Verständnis zu kritisieren, das sich nur auf die Partizipation von gesellschaftlichen Komponenten oder Individuen aus der Partei beschränkt, stattdessen muss ein Recht auf Partizipation der Völker und der sozialen Subjekte geschaffen werden.
„Es geht darum, wie wir den Widerstand entwickeln können“
Diese bisherige Art der Umsetzung führt zu der oft kritisierten Entfremdung, dem Elitismus, dem Bürokratismus und der Verhaftung in repräsentativer Politik. Gegenwärtig bedeutet Partizipationsrecht die Bildung eines Bündnisses sozialer Kämpfe und die Durchsetzung ihrer Forderungen. Aus diesem Anlass sollte die Kritik nicht als Kritik an unserer strategischen Kampflinie, der Bündnispolitik, verstanden werden, sondern als Kritik an ihren praktischen Unzulänglichkeiten. Im Übrigen ist niemand der Meinung, dass wir kein Bündnis gegen das System bilden sollten, dass wir keinen gemeinsamen Kampf führen sollten, und niemand verkennt die Opfer, die die einzelnen Organisationen und Personen in diesem Kampf bringen. Gerade diese Tatsache sollte als eine Diskussion oder Kritik gesehen werden, mit dem Ziel unserer Realität würdiger zu werden. Das Minimum, um dem gerecht zu werden, ist es eine Kollektivität unter uns zu schaffen, um die in jahrelanger Arbeit erworbenen politischen und sozialen Positionen und Werte zu verteidigen und auszubauen. In diesem Zusammenhang geht für uns nicht um die Frage, ob wir Widerstand leisten oder nicht; es geht darum, wie wir den Widerstand entwickeln können.”
Çiçek ging auch auf die Kritik ein, dass die YSP nicht ausreichend für sich geworben habe: „Es gibt zwei Gründe, warum die Grüne Linkspartei während des Wahlprozesses nicht ausreichend bekannt gemacht wurde. Der erste ist, dass der Wahlkampf in einer sehr kurzen Zeitspanne durchgeführt werden musste. Wenn eine andere Partei in so kurzer Zeit erstmals zu Wahlen angetreten wäre, wäre es fraglich, ob sie überhaupt so viele Stimmen hätte erhalten können. Dies ist auch ein positiver Punkt, an dem sich der Grad der Entwicklung des politischen Bewusstseins unseres Volkes zeigt. Natürlich ist dies keine neue Erkenntnis für uns. Es ist jedoch sinnvoll, in diesem düsteren Umfeld noch einmal daran zu erinnern. Der zweite Grund ist, dass sich in der mangelnden Bekanntmachung der YSP eine organisatorische Schwäche zeigt. Wir üben Selbstkritik, dass wir uns dieser Organisationsrealität, die seit langem unter dem Einfluss objektiver und subjektiver Bedingungen schrumpft und schwächer wird, nicht gestellt haben und rechtzeitig Maßnahmen ergriffen haben, obwohl wir uns dessen bewusst waren. Wir können uns dieser Selbstkritik nicht unter dem Argument der Repression und Verfolgung entziehen. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass der Ausnahmezustand unser Normalzustand ist. Deshalb haben wir keine andere Wahl, als unter allen Umständen eine in ihren ideologischen, politischen und sozialen Werten starke Organisation zu bleiben.“
„Jede Phase hat ihre Bedingungen und ihren organisatorischen Charakter“
In Bezug auf die Kritik und Empfehlungen aus der Bevölkerung, zur Tradition der HADEP oder zur ersten Periode der HDP zurückzukehren, erklärte Çiçek, dass jede Periode ihre eigenen Bedingungen und ihren eigenen organisatorischen Charakter habe, und dass die Zeit der HADEP eine andere gewesen sei. Çiçek fügte hinzu, dass es falsch sei, verschiedene Phasen zu vergleichen, und fuhr wie folgt fort: „In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen, dass ich die Bezugnahme auf die frühen Phasen der HDP und HADEP zwar für verständlich, aber nicht für korrekt halte. Jede Periode hat ihre eigenen Bedingungen und ihren eigenen organisatorischen Charakter, der sich aus diesen Bedingungen ergibt. Wir können das nicht voneinander losgelöst betrachten. Können wir zum Beispiel die Periode der HADEP unabhängig von der Periode des kurdischen Aufstands, der konkreten Organisationsfähigkeit der revolutionären Bewegung innerhalb des Volkes, der Entwicklung des Nationalgefühls und des politischen Bewusstseins und der Bedeutung des direkten Kontakts von Abdullah Öcalan mit dem Volk betrachten? Kann man die Anfänge der HDP als unabhängig von den Bedingungen, die durch das politische Klima, das unter der Federführung von Abdullah Öcalan geschaffen wurde, entstanden ist, betrachten? Nein, natürlich nicht. Genauso wenig, wie wir die Perioden mit reiner Logik vergleichen können, können wir Parteien wie die HADEP und die HDP unabhängig von der revolutionären Dynamik und den Grundlagen des Kampfes betrachten. Jede Bewertung, die von den historischen Prozessen, der Dynamik und den ideologischen Grundlagen, die sie bestimmen, losgelöst wird, bringt polarisierte Herangehensweisen an die demokratische Politik und einen falschen Ansatz mit sich. Entweder wird die demokratische Politik in den Himmel gehoben und zum Zentrum von allem gemacht, oder sie wird mit Füßen getreten, zermalmt und auf ein Nichts reduziert.“
„Relativer Erfolg bei den Wahlen hat verhindert, dass Kritik zum Tragen kam“
Çiçek äußerte sich ebenfalls zur Kritik an der Entwicklung der HDP zu einer „Mittelklassepartei“: „In der Tat wurde diese Kritik nicht zum ersten Mal geäußert, und sie war nicht nur auf das Volk beschränkt. Innerhalb unserer organisierten Strukturen gibt es schon seit Langem Diskussionen und Kritik in dieser Richtung. Die relativen Wahlerfolge haben verhindert, dass sich diese Diskussionen vertieften und die Kritik sichtbar wurde. Unter diesem Gesichtspunkt kritisieren wir die Tatsache, dass Wahlergebnisse fast das einzige Kriterium des Kampfes sind. Im Übrigen geht es nicht darum, die Wahlprozesse zu ignorieren oder sie als unwichtig zu betrachten. Wenn die Wahlerfolge unsere organisatorische Realität und die Probleme des Kampfes überdecken, liegt ein schwerer Fehler und ein ideologischer Irrweg vor. Mit dem Sieg der HDP bei den Wahlen am 7. Juni 2015 begann das Gleichgewicht zwischen Wahlen und sozialem Kampf zugunsten der Wahlen zu kippen. Wahlen sollten jedoch nicht als ein Kampfprozess an sich betrachtet werden, sondern als eine Zwischenstation, ein Intervall des demokratischen revolutionären Kampfes.“
„Der Sieg wird ein Sieg der revolutionären Politik sein“
Çiçek schloss mit den Worten: „Die Verengung des sozialen Kampfes auf Wahlprozesse hat uns auch daran gehindert, rechtzeitig Maßnahmen gegen die Entwicklung des Faschismus zu ergreifen. Da dieser irregeleitete Zustand lange Zeit anhielt, entstand anstelle eines revolutionären, demokratischen, legitimen Verständnisses von Kampf eine Perspektive, die sich auf die Bereiche verengte, in denen das System uns gefangen hielt. Was folgte daraus? Während das System uns von allen Seiten angriff, seinen ideologischen und Zwangsapparat mit jeder erdenklichen Weise über uns entlud, sah man den Ausweg in einer ‚überlegenen Leistung‘ unserer Fraktion und der Parteispitze; eine organisierte, widerständige und subjekthafte Volksrealität wurde nicht als notwendig betrachtet, sie stand so gut wie nicht auf unserer Tagesordnung. Die Tatsache, dass die Rolle des HDK, die heute häufig kritisiert wird, heruntergespielt und de facto außer Kraft gesetzt wurde, hängt auch mit dieser systemimmanenten Haltung und einer solchen Kampfkultur zusammen. Deshalb müssen wir eine sachliche Kritik an unserer jüngsten Geschichte üben. Deshalb müssen wir die Verzerrung durch Wahlerfolge beseitigen, denn sie lenkt von den Aufgaben des Kampfes und dem darauf aufbauenden organisatorischen Charakter ab. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Aussage von Cemil Aksu: „Der 7. Juni ist ein wichtiger Moment des Wahlsieges, aber er ist auch der Beginn einer Niederlage.“ zu betrachten. Es ist unmöglich, der Feststellung von Cemil Aksu nicht zuzustimmen, dass „der 7. Juni der Moment ist, in dem die gemeinsamen Vorbereitungen der herrschenden Klasse der türkischen Bourgeoisie mit ihrer AKP und CHP begonnen haben, um diesen Sieg zu ersticken.“ Es ist nicht unser gesamter Kampf, der besiegt ist. Lassen wir uns nicht täuschen, lassen wir uns nicht in die Irre führen. Was besiegt ist, ist unser Verständnis, dass Wahlsiege nicht in soziale Politik umsetzt, dass sie nicht in die Stärkung des Kampfes auf den Straßen transformiert. In dieser Hinsicht wird der endgültige Sieg der Sieg der revolutionären Politik sein. Der Sieg liegt in dem Motto ‚Wahlen sind eine Sache, aber nicht alles‘.“