36 neue Gefängnisse in der Türkei: „Esat Oktay ist nicht tot“

Das totalitäre Herrschaftsverständnis der AKP-Regierung lässt sich an den Investitionen für neue Gefängnisse in der Türkei ablesen. Die Haftbedingungen politischer Gefangener erinnern an das Foltergefängnis in Amed nach dem Militärputsch von 1980.

Eines der deutlichsten Merkmale der Situation, in die die AKP-Regierung die Türkei in ihrer zwanzigjährigen Amtszeit mit ihrer als „Ein-Mann-Regime“ bezeichneten totalitären Denkweise gebracht hat, sind die Gefängnisse. Nach Angaben des türkischen Justizministeriums befanden sich mit Stand vom 31. Januar 2022 insgesamt 303.389 Personen im Gefängnis, darunter 38.359 Untersuchungs- und 265.030 Strafgefangene. 289.684 Gefangene sind Männer, 11.823 Frauen und 1882 Minderjährige.

Laut der Strafstatistik des Europarats von 2020 ist die Türkei der Mitgliedsstaat mit den meisten Gefangenen gemessen an der Bevölkerungszahl. Von 100.000 Einwohner:innen befanden sich 357 Personen in Haft. Da die Regierung sich mit dem Bau weiterer Vollzugsanstalten brüstet, ist davon auszugehen, dass sie ihren Spitzenplatz unter den 47 Mitgliedsländern nicht abgeben wird.

36 neue Gefängnisse

Für den Bau von 36 neuen Gefängnissen ist dem Justizministerium durch das von Präsident Tayyip Erdogan abgesegnete Investitionsprogramm für 2022 ein Budget von knapp zwei Milliarden TL (etwa 61.000.000 Euro) zur Verfügung gestellt worden. Im vergangenen Jahr wurden 2.246.000.000 TL aus dem Staatshaushalt für den Gefängnisbau verbraucht.

Ein Blick auf die Todesfälle in Haftanstalten, die bekannt gewordenen Informationen über kranke Gefangene, die Schilderungen von Angehörigen von Gefangenen und die periodisch veröffentlichten Berichte von Menschenrechtsorganisationen machen deutlich, dass die Gefängnisse in Folterzentren ausgeartet sind, in denen das Recht auf Leben nicht gewahrt wird und unmenschliche und entwürdigende Maßnahmen angewendet werden. Die Unterdrückung, Gewalt und Rechtsverletzungen im Strafvollzug und der Untersuchungshaft in der heutigen Zeit lassen sich mit dem Terrorregime vergleichen, das nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 im berüchtigten Foltergefängnis in Amed (tr. Diyarbakir) von dem leitenden Offizier Esat Oktay Yıldıran etabliert wurde. Da die Gefangenen in verschiedenen Haftanstalten dieselbe Behandlung erfahren, ist von einer systematischen Politik auszugehen.

Zunehmende Unterstützungsanfragen beim IHD

Besorgte Angehörige von Gefangenen rennen den Menschenrechtsorganisationen die Türen ein. Eine dieser Einrichtungen ist das Büro des Menschenrechtsvereins IHD in Amed. Weil eine Unterstützungsanfrage der nächsten folgt, herrscht dort Hochbetrieb.

Şeyhmus Başkan hat dem Menschenrechtsverein den Fall seines Sohnes Davut Başkan geschildert. Der 28-Jährige ist seit zwölf Jahren im Gefängnis und wurde vor drei Monaten aus Kayseri nach Afyon-Bolvadin verlegt. Nach Angaben seines Vaters sollte er bei der Aufnahme in die neue Anstalt einer entwürdigenden Nacktuntersuchung unterzogen werden. Er wehrte sich und wurde vom Wachpersonal geschlagen. Am 22. Februar erzählte er seiner Familie telefonisch davon. Als er sagte, dass die Vollzugsbeamten ihn als Terrorist beschimpft und physisch misshandelt haben und die Schlagspuren immer noch an seinem Körper zu sehen sind, wurde die Verbindung plötzlich unterbrochen. Fünf Minuten klingelte das Telefon erneut. Davut war aufgrund seiner Schilderung über die erlittene Misshandlung vom Wachpersonal beschimpft und bedroht worden.

Ich habe Angst um meinen Sohn“

Şeyhmus Başkan will Anzeige gegen das Vollzugspersonal stellen und bittet beim IHD um juristische Unterstützung. Er macht sich Sorgen um seinen Sohn und setzt trotz seines fortgeschrittenen Alters und seines eigenen schlechten Gesundheitszustands alles in Bewegung, um ihm Gehör zu verschaffen. Über den HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu ist der Fall sogar im Parlament eingebracht worden. Bei einer telefonischen Anfrage im Justizministerium wurde dem Vater mitgeteilt, dass es viele Beschwerden über die Vollzugsanstalt gibt. „Ich habe Angst um meinen Sohn. Wenn ihm etwas zustößt, ist das Justizministerium dafür verantwortlich“, sagt Şeyhmus Başkan: „Unsere Kinder sind Druck und Gewalt ausgesetzt und können ihre gesetzlich verankerten Rechte nicht nutzen. Wir fordern einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der sich im Gefängnis alles mit eigenen Augen ansieht und die Gefangenen anhört.“

Esat Oktay ist nicht tot“

Eine weitere Antragstellerin beim IHD ist Remziye Alan. Ihr Sohn Mazlum Alan sitzt in Izmir-Buca. Der 29-Jährige ist zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt und seit elf Jahren im Gefängnis. Seine Familie hat kein Geld und konnte ihn seit drei Jahren nicht besuchen. Remziye Alan erzählt, dass ihr Sohn 2019 während des von der kurdischen Politikerin Leyla Güven initiierten Hungerstreiks von Bolu nach Buca verlegt wurde und in dieser Zeit Leberkrebs bei ihm festgestellt worden ist.

Zu den Haftbedingungen ihres Sohnes sagt Remziye Alan: „Bei unserem letzten Telefongespräch hat Mazlum erzählt, dass er und seine Mitgefangenen Druck und Misshandlung ausgesetzt sind. Sie bekommen nur einen Löffel voll Essen, als ob die Wächter sich über sie lustig machen würden. Briefe werden ihnen nicht ausgehändigt. Er sagte, dass ihre Beschwerden darüber beschlagnahmt wurden. Als sie dagegen widersprochen haben, bekamen sie die Antwort: ,Esat Oktay ist nicht tot, er lebt hier.' Mazlum meinte, wir müssten ihn dort unbedingt herausholen. Er ist sehr krank. Wenn er nach Amed verlegt werden würde, könnte ich ihn wenigsten einmal im Monat sehen.“