Gössner: „Türkei missachtet Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“

Der Menschenrechtler und Unterzeichner des Offenen Briefs an das CPT, Dr. Rolf Gössner, fordert ein Ende der Inhaftierung von Abdullah Öcalan. Als kurdischer Repräsentant müsse er an einer politischen Lösung der kurdischen Frage beteiligt werden.

Dr. Rolf Gössner

Im Juni 2024 haben sich hundert Personen des öffentlichen Lebens mit einem Offenen Brief an das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) gewandt. Sie fordern in ihrem dringlichen Appell die unverzügliche Entsendung einer Delegation auf die türkische Gefängnisinsel Imrali und eine unabhängige Überprüfung, Klärung und Änderung der extremen Haftsituation von Abdullah Öcalan und den anderen Gefangenen auf Imrali. Einer der Unterzeichner ist der Jurist, Publizist und Bürgerrechtler Dr. Rolf Gössner. Im Interview mit ANF erklärte er, dass das CPT auf den offenen Brief geantwortet habe, aber die „Antwort nicht aussagekräftig und insoweit unbefriedigend“ sei.

Gerichtet an die bundesdeutsche und europäische Politik zur Türkei und der kurdischen Frage betonte Gössner, dass es eines radikalen Wandels bedarf, zu dem die Beendigung der „Terror-Stigmatisierung, Kriminalisierung, Verfolgung und Ausgrenzung von Kurden, ihren Organisationen und Medien in Europa und Deutschland“ gehöre. „Die Bundesrepublik und auch die EU müssten also alles dafür unternehmen, einen Dialogprozess sowie eine friedliche, gerechte und demokratische Lösung der kurdischen Frage zu befördern, statt wie bisher zu behindern. Und dazu gehört: die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots und der Exekutiv-Ermächtigung zur Strafverfolgung nach § 129b StGB (Mitgliedschaft in Terroristi­scher Vereinigung im Ausland) sowie die Streichung der PKK aus der EU-Terrorliste.“

Herr Rolf Gössner, haben Sie eine Antwort des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (CPT) auf Ihren offenen Brief erhalten? 

Ja, eine Antwort ist eingegangen und zwar beim Solidaritätsnetzwerk Deutschland für die Kampagne „Freiheit für Öcalan - eine politische Lösung für die kurdische Frage“, das den Offenen Brief initiiert hatte. In dieser Antwort wird versichert, dass das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) die Situation von Herrn Öcalan und der anderen im Imrali-Gefängnis inhaftierten Personen verfolge und weiterhin beobachten werde. Der Expertenausschuss des CPT habe die Haftanstalt auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer bereits mehrfach besucht, zuletzt im September 2022. Die Situation der dort Inhaftierten sei weiterhin, so heißt es wörtlich, „fester Bestandteil des laufenden Dialogs des Ausschusses mit den türkischen Behörden“, zuletzt während des jüngsten Besuchs in der Türkei im Februar 2024. 

Wie beurteilen Sie diese Ausführungen des CPT?

Leider ist diese Antwort nicht aussagekräftig und insoweit unbefriedigend. Denn es werden darin keinerlei konkrete Schritte des CPT genannt, die eine nachhaltige Verbesserung der Haftsituation bewirken könnten. Außerdem hat sich ja seit dem letzten CPT-Besuch auf Imrali im September 2022, also seit fast zwei Jahren, an der Isolations-Haftsituation nichts zum Besseren verändert, eher im Gegenteil. Und auch der jüngste Besuch des CPT im Februar 2024 in der Türkei – jedoch nicht mehr im Gefängnis auf Imrali –, hat hieran offenbar nichts geändert. Das spricht leider nicht für effektives Einwirken des CPT auf die zuständigen türkischen Behörden und politisch Verantwortlichen.

In Ihrem Offenen Brief fordern Sie das CPT auf, die Insel Imrali unverzüglich erneut zu besuchen und darauf zu drängen, dass die Türkei ihren Verpflichtungen als Mitglied des Europarates in vollem Umfang nachkommt.

Tatsächlich ist es allerhöchste Zeit, dass das CPT mit allem ihm möglichen Nachdruck die menschenrechtswidrigen Isolations-Haftbedingungen anprangert, denen Abdullah Öcalan und seine Mitgefangenen auf der Gefängnisinsel Imrali schon so lange ausgeliefert sind. Als Mitgliedstaat des Europarates ist die Türkei an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.

Doch gerade hier gibt es in der Türkei große Defizite und schwerwiegende Verstöße von Seiten der türkischen Regierung und Administration – systematische Menschenrechtsverstöße, die die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat praktisch in Frage stellen müssten. So ist vielfach dokumentiert, dass türkische Staatsbehörden monate- und jahrelang gegen Gefangene unmenschliche Isolationshaft verhängen. Immer wieder werden, wie im Fall Öcalan sogar jahrelang, willkürlich und rechtswidrig Anwaltskontakte und Besuche von Familienangehörigen verweigert. Außerdem unterläuft und missachtet die Türkei Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die sie jedoch beachten und umsetzen müsste. 

Sie erinnern in Ihrem Brief an die Grundprinzipien des CPT. Um was geht es dabei und wie weit kann das CPT gehen?

Wir wollten mit der Unterzeichnung unseres Appells daran erinnern, dass es zu den Pflichten des CPT gehört, Inhaftierte in Mitgliedsländern des Europarates vor Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe zu schützen; und dazu zählen ganz besonders Isolationshaftbedingungen wie im Fall Öcalan. Dem Experten-Ausschuss des CPT sind bei der Durchführung seiner Besuche von Haftanstalten weitgehende Untersuchungsbefugnisse eingeräumt: Er hat uneingeschränkten Zugang zu allen Gefängnissen und das Recht, sich darin frei zu bewegen. Bei ihren Inspektionen haben die Experten auch das Recht, vertraulich mit Inhaftierten und anderen Personen ihrer Wahl zu sprechen. In dringenden Fällen kann der Ausschuss, neben seinen regelmäßigen Staatenbesuchen, auch kurzfristig Ad-hoc-Besuche anmelden und durchführen.

Deshalb könnte das CPT so rasch wie möglich erneut eine Delegation nach Imrali schicken, um die Betroffenen direkt zu befragen, deren Haftbedingungen unabhängig zu untersuchen, ihren Gesundheitszustand zu beurteilen sowie für die Gewährleistung von Anwalts- und Familienkontakten zu sorgen. Doch leider gehen die Kompetenzen des CPT nicht sehr viel weiter bzw. nicht weit genug, um menschenrechtswidrige Zustände auch wirksam und nachhaltig abzustellen: Das CPT fertigt in aller Regel vertrauliche Berichte über seine Gefängnisbesuche und kritischen Befunde an, schickt sie an die betreffenden Mitgliedsstaaten und empfiehlt ihnen gegebenenfalls Verbesserungsmaßnahmen. Eigene konkrete Durchsetzungsmöglichkeiten gibt es nicht.

Trotz dieser recht eingeschränkten Einwirkungsmöglichkeiten stellt sich meines Erachtens die Frage, ob das CPT und auch der Europarat bislang genügend Druck auf die Türkei ausgeübt haben, um so wirksam wie möglich gegen Folter und andere Menschenrechtsverstöße auf Imrali und in anderen türkischen Gefängnissen vorzugehen. Tatsächlich ist es längst überfällig, dass die Türkei echte Konsequenzen für ihre Rechtsbrüche zu spüren bekommt. Und dazu könnten etwa auch gezielte Sanktionen gegen Verantwortliche des türkischen Isolationshaft-Systems gehören. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats drängte schon 2021 und 2023, allerdings in anderen Zusammenhängen, auf Sanktionen und Strafmaßnahmen gegen die Türkei im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens. Im äußersten Fall könnte die Türkei sogar aus dem Europarat ausgeschlossen werden, so wie es Russland nach seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 passiert ist (das diesem Votum jedoch mit einem Austritt zuvorkam). Allerdings scheidet mit Ende der Mitgliedschaft im Europarat der betreffende Staat automatisch auch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aus, so dass ihn diese nicht mehr bindet.

Meine letzte Frage bezieht sich auf die Kriminalisierungspolitik und -praxis in Deutschland. Der jüngste Bericht von Amnesty International zeigt, dass auf dem gesamten Kontinent weit verbreitete repressive Gesetze, unnötige oder übermäßige staatliche Gewaltanwendung, willkürliche Verhaftungen und Verfolgungen, ungerechtfertigte oder diskriminierende Grundrechts-Einschränkungen und der zunehmende Einsatz von Überwachungstechnologien zu einem systematischen Rückschritt beim Recht auf Protest in Europa geführt haben. Seit 1993 erleben wir in der Bundesrepublik unverhältnismäßige Polizeieinsätze gegen friedliche Demonstrationen von Kurden aufgrund des PKK-Verbots …

Nun, bezogen auf die bundesdeutsche Kriminalisierungspolitik und -praxis gegen Kurdinnen und Kurden ist folgendes festzustellen: Tatsächlich hat sich die Bundesrepublik insoweit in die „Antiterror“-Strategie und Repressionspolitik der Türkei ziemlich einbinden lassen. Insbesondere das Verbot der kurdischen PKK von 1993, das in den letzten Jahren noch ausgeweitet worden ist, sowie die Führung der PKK in der EU-Terrorliste sind Instrumente, die keineswegs mehr in diese Zeit passen. Sie erschwert, ja torpediert eine friedliche und gerechte Lösung der kurdischen Frage.

Das Betätigungsverbot gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK in Deutschland hat hierzulande jedenfalls viel Unheil gestiftet. Trotz des Wandels, den die einst gewaltorientierte Kaderpartei PKK in Europa längst in Richtung einer friedlich-demokratischen Lösung des Konflikts vollzogen hat, besteht ihr Verbot hierzulande bis heute fort. Diese rigide Verbotspolitik hat Zigtausende politisch aktiver Kurden diskriminiert und kriminalisiert, hat sie unter Generalverdacht gestellt, zu potentiellen Gewalttätern und gefährlichen „Terroristen“ gestempelt und zu innenpolitischen Feinden und Sicherheitsrisiken erklärt und ausgegrenzt.

Durch das PKK-Betätigungsverbot werden elementare Grundrechte massiv beschränkt: so die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, die Meinungs- und Pressefreiheit und damit die freie politische Betätigung. Demonstrationsverbote und Razzien, Durchsuchungen von Privatwohnungen, Vereinen, Druckereien, Redaktionen und Verlagen, Beschlagnahmen und Inhaftierungen waren und sind immer wieder an der Tagesordnung, genauso wie geheimdienstliche Ausforschung und Infiltration durch Staats- und „Verfassungsschutz“. Auf Grundlage des PKK-Verbots werden schließlich auch Geld- und Freiheitsstrafen verhängt, Einbürgerungen abgelehnt, Staatsbürgerschaften aberkannt, Aufenthaltserlaubnisse nicht verlängert, Asylanerkennungen widerrufen oder Ausweisungen verfügt.

Was müsste Ihrer Auffassung nach passieren, um dies zu ändern?

Grundsätzlich bedarf es eines radikalen Wandels der bundesdeutschen und europäischen Türkei- und Kurdenpolitik. Und dazu gehört: endlich die Terror-Stigmatisierung, Kriminalisierung, Verfolgung und Ausgrenzung von Kurden, ihren Organisationen und Medien in Europa und Deutschland zu beenden. Außerdem müssen die Völkerrechtsverbrechen des Nato- und Europarats-Mitglieds Türkei, die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und die ungelöste kurdische Frage als zentrale Probleme und Herausforderungen unverzüglich und mit Nachdruck auf die Agenda des Europarats und der EU gesetzt werden. Denn: Die kurdische Frage, überhaupt die Minderheitenfrage, ist weniger denn je ein Terrorproblem, sondern eine politisch-menschenrechtliche Herausforderung der Türkei mit weitreichenden Auswirkungen auf Europa und die Bundesrepublik.

Die Bundesrepublik und auch die EU müssten also alles dafür unternehmen, einen Dialogprozess sowie eine friedliche, gerechte und demokratische Lösung der kurdischen Frage zu befördern, statt wie bisher zu behindern. Und dazu gehört: die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots und der Exekutiv-Ermächtigung zur Strafverfolgung nach § 129b StGB (Mitgliedschaft in Terroristi­scher Vereinigung im Ausland) sowie die Streichung der PKK aus der EU-Terrorliste. Dar­über hinaus gehört dazu auch ein baldiges Ende der nunmehr 25-jährigen Inhaftierung von Abdullah Öcalan unter unmenschlichen Bedingungen. Als wichtigster und legitimer kurdischer Repräsen­tant muss er, wie kürzlich auch die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek forderte, an einer politischen Lösung der kurdischen Frage beteiligt werden.


Dr. Rolf Gössner ist Jurist, Publizist und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschen­rechte (Berlin) und Mitherausgeber des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer-TB). Als Anwalt (1980-2021), internationaler Prozessbeobachter, Teilnehmer an Menschenrechtsdelegationen (auch in die Türkei) und Referent beschäftigt er sich bereits seit den 1990er Jahren mit der kurdischen Frage, der Menschenrechtslage in der Türkei und einer verhängnisvollen deutsch-türkischen „Sicherheitskooperation“. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte. Gössner wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hans-Litten-Preis der Vereinigung Demokratischer Jurist:innen (VDJ).