„Wir stehen nicht hilflos der Gewalt gegenüber“

Im Frauenverein Kaktüs in Istanbul organisieren sich seit eineinhalb Jahren junge Frauen und kämpfen gegen patriarchale Gewalt. Sie kündigen an, sich an den Aktivitäten im Vorfeld des internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen entschlossen zu beteiligen.

Nach der Ermordung der 23-jährigen Şule Çet im Mai 2018 in Istanbul haben sich junge Frauen zusammengefunden, um gemeinsam für Gerechtigkeit zu kämpfen. Die Frauen, einige noch an der Schule, andere an der Universität, diskutierten im Rahmen von Workshops, wie sie zusammen etwas bewegen können, und gründeten den Frauenverein Kaktüs (dt. Kaktus). Seitdem führt der Verein regelmäßig Veranstaltungen und Seminare durch. Die Arbeit riss auch nicht durch die physische Isolation ab, die Covid-19 mit sich brachte. Im Gegenteil, die Frauen thematisierten die während der Pandemie eskalierende Gewalt gegen Frauen zu Hause und am Arbeitsplatz und weiteten ihren Kampf aus.

Selbstverteidigung gegen patriarchale Gewalt“

Die jungen Frauen führen jeden Monat Workshops durch. Im November geht es hauptsächlich um Gewalt gegen Frauen und um Selbstverteidigung. Diese Workshops finden in Hinsicht auf den 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, statt.

Tanya Kara von Kaktüs berichtet gegenüber ANF von ihrer Arbeit: „Wir haben für November ein Programm vorbereitet, das beinhaltet, wie wir als junge Frauen den verschiedenen Formen von Gewalt begegnen können. Es geht darum, welche Formen von Gewalt gegen Frauen es gibt. In diesem Zusammenhang beschäftigen wir uns mit den verschiedenen Formen von Gewalt, von Zustimmung und Erzwingen von Zustimmung bis hin zu psychischer Gewalt. Wir haben auch einen Programmpunkt zum Thema Selbstverteidigung vorbereitet und werden Selbstverteidigung trainieren, aber auch Filme zeigen und zusammen essen.“

Tanya Kara

Wir stehen an der Seite von Çilem Doğan“

Kara kommentiert die Verurteilung von Çilem Doğan zu 15 Jahren Haft, nachdem sie ihren gewalttätigen Ehemann in Selbstverteidigung getötet hatte, als Einschüchterungsversuch der „Männerjustiz“ gegenüber allen Frauen, die sich selbst schützen. Sie fährt fort: „Wir als Frauen erleben in unserem Leben die Produktion von Gewalt durch das Patriarchat auf gravierendste Art und Weise. Es gibt einen ernsthaften Angriff, der von allen Institutionen des patriarchalen Systems organisiert wird. Wir müssen uns demgegenüber organisieren und unsere Solidarität stärken. Wir müssen als Frauen ein Bewusstsein über Selbstverteidigung schaffen. Wir versuchen, diese Einstellung zu organisieren. Wir sind nicht hilflos gegen die Gewalt und wir wissen, dass wir unser Leben in jeder Hinsicht verteidigen können. Wir versuchen uns in der Zeit des 25. November entlang einer Linie zu organisieren, die darin besteht, ‚Nein‘ zu sagen, die Selbstverteidigung zu organisieren, um sich selbst sowie andere Frauen verteidigen zu können. Heute lässt die patriarchale Justiz viele Vergewaltiger oder Mörder frei und verhängt gleichzeitig schwere Strafen gegen Frauen, die sich selbst verteidigen, um ihr eigenes Leben zu schützen. Es ist eine sehr klare Botschaft an Frauen. Der Staat sagt damit: ‚Ich schütze die Männer, die das patriarchale System vorantreiben, und bestrafe die Frauen, die sich mir entgegenstellen.‘ Çilem hat sich selbst verteidigt, um ihr Leben zu schützen und sie hat eine genau solche Strafe von der Männerjustiz erhalten. Wir verteidigen Çilem und ziehen Kraft aus ihrer Praxis. Als Frauen stehen wir an Çilems Seite.“

Den Aufstand auf den Straßen organisieren“

Kara schließt mit den Worten: „Der Austritt aus der Istanbul-Konvention und der deutliche Anstieg der Gewalt gegen Frauen sind die konkretesten Beispiele für den weitreichenden Angriff auf unser Leben, unsere Rechte und unsere Körper. Uns als Frauen soll das Recht genommen werden, Entscheidungen zu treffen. Die gesamte Gesellschaft soll auf politisch-islamistischer Basis organisiert werden. Das Abschlachten von Frauen mit Samurai-Schwertern, also grausames Morden, wird in den bürgerlichen Medien als Beispiel dargestellt. Wir als Frauen stehen einem organisierten Angriff gegenüber. Manche Frauen werden im Parteigebäude ermordet, manche in ihren Häusern oder auf der Straße von einem Mann, den sie gar nicht kennen. Dann heißt es, ja, ihr Rock war kurz, was hatte sie denn auf der Straße zu suchen. Gegen diese Legitimation erheben wir Frauen uns und versuchen, uns zu organisieren und unsere Stimme laut werden zu lassen.“