In der Türkei sind innerhalb eines Jahres mindestens 178 Frauen und LGBTIQ-Personen bei Protesten für den Erhalt der Istanbul-Konvention festgenommen worden. Das geht aus einem Bericht hervor, den die „Frauengruppe soziale Gerechtigkeit” am Freitag in Ankara vorstellte. Bei zwei der betroffenen Frauen handelt es sich um die Journalistinnen Habibe Eren und Öznur Değer, Korrespondentinnen der feministischen Nachrichtenagentur JinNews. Gegen 23 Frauen sind Ermittlungsverfahren bei Gericht anhängig.
Der Bericht mit dem Titel „Rechtsverletzungen und Straflosigkeit bei Aktionen für die Istanbul-Konvention” umfasst den Zeitraum vom 5. August 2020 bis zum 1. Juli 2021. Bei der Bekanntmachung im feministischen Begegnungszentrum Mor Mekan bezeichnete die Rechtsanwältin Irmak Bakır den Rückzug der Türkei aus der Konvention, die 2011 vom Europarat als völkerrechtlicher Vertrag ausgefertigt wurde und einen europaweiten Rechtsrahmen schaffen soll, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen, als einen „konkreten Schritt einer Regierungsoffensive gegen den Frauenbefreiungskampf“. Die Vereinbarung gilt als Meilenstein im Kampf gegen patriarchale Gewalt und verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen sowie die Präventions- und Hilfsangebote zu verbessern. Der von Präsident Recep Tayyip Erdoğan angeordnete Austritt des Landes aus der Istanbul-Konvention war am 1. Juli offiziell vollzogen worden. Erste Andeutungen gab es aber bereits im Vorjahr.
Irmak Bakır (m.) bei der Vorstellung des Berichts
Einkesselung von Kundgebungen, um Frauen „unsichtbar“ zu machen
„Frauen und LGBTIQ+, die sich unter der Devise ‚Wir geben die Istanbul-Konvention nicht auf‘ für den Erhalt des Abkommens beziehungsweise gegen den Austritt einsetzten, sind zum Ziel von Polizeigewalt, Festnahmen, Ermittlungsverfahren und Anklagen geworden. Darüber hinaus sind sie von Kürzungen ihrer Stipendien betroffen”, sagte Bakır. Als häufigste Form der staatlichen Repression sei die Einkesselung von Kundgebungen und Demonstrationen zu beobachten gewesen. Vor allem in Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Mersin, Eskişehir und Tokat. Den Sicherheitskräften gehe es im Besonderen darum, die Frauen und ihren Protest „unsichtbar“ zu machen, führte die Juristin weiter aus.
Allein in der türkischen Hauptstadt Ankara seien acht von achtzehn im Berichtszeitraum durchgeführte Aktionen von Frauen und LGBTIQ-Personen von der Polizei unter Anwendung von massiver Gewalt und dem Einsatz von Tränengas aufgelöst worden, so Irmak Bakır. „Bei sieben dieser Proteste ist es darüber hinaus zu insgesamt 106 Festnahmen und damit zur Einschränkung von Grundrechten gekommen. Zwei weitere Frauen aus der Region wurden wegen Plakatierungsaktionen und Beiträgen im Kurznachrichtendienst Twitter festgenommen“, hieß es weiter.
Auch in Istanbul ging die Polizei regelmäßig gegen Aktionen für den Erhalt der nach der Bosporus-Metropole benannten Konvention vor. Ein von der „Kampagnengruppe Istanbul-Konvention umsetzen“ im Juli vergangenen Jahres im Abbasağa-Park in Beşiktaş angemeldetes Forum etwa war kurzfristig verboten worden. Die Frauen waren unbeeindruckt geblieben und veranstalteten eine Demonstration bis zum Hafen. Am Schiffslandeplatz setzten sie ihr Forum wie geplant um und führten eine inhaltliche Debatte. Am Ende wurden acht Aktivistinnen festgenommen.
In Izmir waren im August 2020 insgesamt 21 Frauen bei einer Protestkundgebung gegen das Verbot einer Demonstration für die Istanbul-Konvention gewaltsam festgenommen worden. Achtzehn von ihnen wurden wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen das türkische Versammlungsgesetz angeklagt. In Städten wie Mersin, Adana und Hatay dagegen hat sich die Bußgeld-Methode im Zusammenhang mit Aktionen gegen den Rückzug von der Konvention zu einer lukrativen Einnahmequelle für AKP-Kommunen etabliert. Vor allem Aktivistinnen der Frauenplattform Mersin werden seit mehr als einem Jahr mit Bußgeldbescheiden regelrecht überschwemmt, deren Summe utopische Ausmaße haben. Bisher wurden Geldstrafen in Höhe von rund 128.000 TL, umgerechnet etwa 12.844 Euro, verhängt.
Es gibt Realitäten, die durch Gewalt nicht unterdrückt werden können
„Die Regierung führt eine Offensive gegen die Frauenbewegung. Die damit einhergehende staatliche Gewalt ist weit verbreitet, systematisch und facettenreich. Doch und Frauen und LGBTIQ+ gelingt es immer wieder, die Belagerung unserer Lebensräume erfolgreich zu durchbrechen”, erklärte Irmak Bakır abschließend. Zudem kündigte die Juristin an, den „Widerstand für die Bestrafung der Gewalttäter“ – gemeint sind die Sicherheitskräfte – genauso entschlossen fortsetzen zu wollen wie das Engagement gegen die Justizbehörden, denen Bakır die Verweigerung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit und damit die „Aushöhlung von Grundrechten“ vorwirft. „Es gibt Realitäten, die durch Gewalt nicht unterdrückt werden können. Die Annullierung der Istanbul-Konvention ist für uns null und nichtig. Frauen und LGBTIQ+ werden alleinherrschaftssüchtige Männer nicht über ihre Zukunft bestimmen lassen.“