128.000 TL Bußgeld für Verteidigung von Frauenrechten

Seit die Diskussionen um den im März beschlossenen Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention letzten Sommer begannen, protestiert die Frauenplattform Mersin für den Erhalt des Übereinkommens – und wird mit utopischen Bußgeldbescheiden überschwemmt.

Aktivistinnen der Frauenplattform Mersin werden seit letztem Sommer mit Bußgeldbescheiden überschwemmt, deren Summe utopische Ausmaße haben. Bisher wurden Geldstrafen in Höhe von rund 128.000 TL, umgerechnet etwa 12.844 Euro, verhängt. Bei den beanstandeten Ordnungswidrigkeiten handelt es sich ausschließlich um Kundgebungen und Aktionen zum Erhalt der Istanbul-Konvention. Im März hatte die türkische Regierung per Präsidialdekret beschlossen, aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auszutreten.

Bußgelder so hoch wie Mindestlohn

Die Diskussionen um den Rückzug waren allerdings vor rund einem Jahr von der islamistisch-konservativen Machtbasis des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angestoßen worden – mit der Behauptung, das Frauenschutzabkommen würde traditionelle Familienstrukturen zerstören, zu Ehescheidung ermutigen und Homosexualität fördern. Seitdem setzen sich landesweit Frauenrechtlerinnen verschiedenster Organisationen für den Erhalt und vor allem für die Umsetzung der Istanbul-Konvention ein. So auch in der südtürkischen Küstenprovinz Mersin. Erstmals erhielten dort fünf Frauen Ende Juli einen Bußgeldbescheid in Höhe von fast 300 Euro, weil sie nach dem Femizid an der 27-jährigen Studentin Pınar Gültekin aus Muğla an der Abgabe einer öffentlichen Erklärung teilgenommen hatten. Im September flatterten gleichhohe Geldstrafen bei sieben Aktivistinnen ins Haus, die sich im Mai an einer „lila Menschenkette“ beteiligten, um auf den Anstieg der Gewalt gegen Frauen in der Türkei aufmerksam zu machen. Die Strafen sind genauso hoch wie der Netto-Mindestlohn, der dieses Jahr bei umgerechnet etwa 300 Euro liegt und den die wenigsten Menschen, die an der Armutsgrenze leben, verdienen. 

Systematisch willkürliche Bußgelder gegen Frauenkampf

„Mittlerweile ist klar, dass diese Methode systematisch zur Anwendung kommt. Die Polizei geht fälschlicherweise davon aus, dass sie auf diese Weise den Frauenkampf aufhalten kann“, sagte Özge Göncü, Ko-Vorsitzende der Zweigstelle der Gewerkschaft von Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen (SES) heute bei einem Sit-in der Frauenplattform Mersin. Die inzwischen fünfte Woche in Folge findet die „Mahnwache für das Leben“ zur Verteidigung der Istanbul-Konvention in dem nach Özgecan Aslan benannten Park statt. Die 20-jährige Psychologiestudentin aus Mersin wurde 2015 brutal von einem Busfahrer ermordet. Zuvor wehrte sie sich gegen eine Vergewaltigung.

Absurde Begründungen

Die Geldstrafen gegen die Frauenrechtsaktivistinnen begründet die Bußgeldstelle Mersin damit, dass sie sich „außerhalb der durch das Provinzgouverneursamt festgelegten Zonen für Versammlungen“ bewegt und damit gegen „Gesundheitsvorschriften zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ verstoßen hätten – trotz Schutzkonzepten und der Einhaltung aller geltenden Abstands-, Masken- und Hygienevorschriften in den dafür vorgesehenen Stadtgebieten. „Anstatt uns Frauen mit willkürlichen Bußgeldern zu überhäufen, sollte sich die Polizei den Gesetzen entsprechend verhalten und Rechenschaft für unsere ermordeten Schwestern abgeben, die heute noch leben könnten, wenn die Sicherheitsbehörden ihnen ihre Grundrechte nicht verweigert hätten. Um unsere Gesundheit kümmern wir uns schon selbst“, fuhr Göncü fort.

Es lebe die Frauensolidarität

Frauen würden nicht schweigen, solange frauenpolitische Forderungen unerfüllt blieben, so die Gewerkschafterin. „Wir sagen es noch einmal: Frauenmorde sind politisch! Wir haben keine Angst und werden uns nicht beugen, sondern weiterhin für unsere Rechte kämpfen. Das Patriarchat sollte nicht vergessen; Wenn wir streiken, steht die Welt still.“ Die heutige Mahnwache widmete die Frauenplattform Mersin dem internationalen Kampftag der arbeitenden Klasse am 1. Mai: „Wir sind hier und bleiben hier, um das Patriarchat, die Hauptader des Kapitalismus, zu erschüttern.“ Das Sit-in endete mit der Parole: „Hoch lebe der 1. Mai und die Frauensolidarität.“