Das türkische Verfassungsgericht hat die Inhaftierung der kurdischen Politikerin Leyla Güven nach ihrer Wahl zur Parlamentsabgeordneten im Jahr 2018 als rechtswidrig eingestuft. Durch die unzulässige Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft seien die Freiheits- und Sicherheitsrechte der 57-Jährigen verletzt worden, heißt es in einer Mitteilung des Gerichts in Ankara. Das nach Angaben von Güvens Verteidigerin Reyhan Yalçındağ auf den 7. April datierte Urteil wurde bisher noch nicht im Amtsblatt der Regierung veröffentlicht.
Leyla Güven, die seit knapp eineinhalb Jahren aufgrund eines Urteils über mehr als zwei Jahrzehnte Freiheitsstrafe wieder im Gefängnis ist, saß im Verlauf ihrer politischen Laufbahn mehrmals hinter Gittern. Am 31. Januar 2018 war sie verhaftet worden, weil sie in Online-Netzwerken und in Presseerklärungen den Angriffskrieg der Türkei gegen den früheren Kanton Efrîn in Nordsyrien kritisiert hatte. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni desselben Jahres war Güven dann eine von fünf Kandidierenden, die aus dem Gefängnis heraus für ein Mandat antraten. Zwei von ihnen schafften es ins Parlament: Leyla Güven wurde als HDP-Abgeordnete der Provinz Colemêrg (tr. Hakkari) in die türkische Nationalversammlung gewählt und genoss damit politische Immunität.
Nach der Wahl beantragte Güvens Rechtsbeistand, dass sie freigelassen wird. Die Strafkammer in Amed (Diyarbakır) verfügte zwar dann auch die Freilassung, doch noch am selben Tag legte der zuständige Staatsanwalt Einspruch ein. Der Haftrichter gab dem statt und ordnete erneut Untersuchungshaft an, noch bevor Güven auf freien Fuß gesetzt worden war. Die Abgeordnete blieb im Gefängnis, das sie erst sieben Monate später, im Januar 2019 verlassen konnte. Dieses Vorgehen bezeichnete das türkische Verfassungsgericht nun als rechtswidrig.
Anwältin: Alle anderen Gerichtsurteile seit 2018 unwirksam
Reyhan Yalçındağ fordert auch jetzt wieder die sofortige Freilassung ihrer Mandantin. „Ich nehme an, dass auch alle anderen gerichtlichen Entscheidungen nach Leyla Güvens Wahl zur Abgeordneten mit dem Urteil aus Ankara unwirksam sind. Das bedeutet, dass nun auch die kassatorische Instanz am Zug ist und die Entscheidung über die lange Gefängnisstrafe gegen Güven aufheben muss“, erklärte Yalçındağ am Samstag in einer Sendung von Artı TV. Für einen entsprechenden Antrag muss das Verfassungsgericht aber zunächst eine schriftliche Urteilsbegründung vorlegen.
Über Leyla Güven
Leyla Güven, die trotz ihrer Inhaftierung weiterhin die Ko-Vorsitzende der Graswurzelbewegung „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD) ist, hatte im Jahr 2018 auch internationale Aufmerksamkeit erregt, als sie in einen Hungerstreik getreten war, um die Freilassung des inhaftierten PKK-Begründers Abdullah Öcalan zu erzwingen. Öcalan sitzt seit Februar 1999 eine lebenslange Haftstrafe in beinahe völliger Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali ab. Im Dezember 2020 ist Leyla Güven wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft zu mehr als 22 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Begründet wurde die lange Haft unter anderem mit „matriarchalem Gedankengut“. Wenige Monate zuvor war ihr das Abgeordnetenmandat entzogen worden. Das erste Mal für längere Zeit im Gefängnis saß die Mutter von zwei Kindern 2009. Damals wurde sie im Rahmen der international kritisierten „KCK-Operationen” verhaftet und kam erst nach fünf Jahren wieder frei. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung war Güven Bürgermeisterin der kurdischen Stadt Wêranşar. Im März 2017 wurde sie im Rahmen des KCK-Verfahrens zu über sechs Jahren Haft verurteilt. Bestätigt wurde das Urteil erst im September 2019.