Eine Mischung aus Wut, Empörung und Entsetzen war es, die Frauenrechtsorganisationen am Freitag in Städten wie Istanbul, Ankara, Mersin, Adana, Izmir, Wan und Colemêrg (tr. Hakkari) auf der Straße entladen haben. Hintergrund der Proteste ist die neuerliche Einstufung der an Demenz erkrankten kurdischen Politikerin Aysel Tuğluk als haftfähig. Mit großer Bestürzung und Fassungslosigkeit fiel die Reaktion daher auf das Anfang der Woche vom Institut für Rechtsmedizin vorgelegte Folgegutachten aus, in dem Tuğluk durch die dem türkischen Justizministerium unterstellte Rechtsmedizin erneut eine Haftfähigkeit und Strafmündigkeit bescheinigt wird. In dem Report findet sich sogar die Behauptung, dass die 56-Jährige keine Verhaltensstörung aufweise. Dabei hatte ein von neun Fachleuten erstelltes Gutachten der forensischen Abteilung der Universität Kocaeli festgestellt, dass Tuğluk aufgrund einer „chronischen und fortschreitenden Alzheimer-Demenz“ nicht länger im Gefängnis verbleiben könne und sofort zu entlassen sei.
Rechtsmedizin betreibt Meinungsmanipulation
In Istanbul versammelten sich Aktivistinnen, Menschenrechtlerinnen und Juristinnen vor der örtlichen Rechtsanwaltskammer. Die Anwältin Yelda Koçak warf der Rechtsmedizin vor, als „politische Institution“ zu agieren und Informationen über Tuğluks tatsächliche gesundheitliche Verfassung zu unterschlagen. „Der fragliche Bericht fällt insofern auf, da er die politisch voreingenommene Struktur der Rechtsmedizin aufzeigt. Denn während 16 Seiten des insgesamt 25-seitigen Folgeberichts eine Zusammenfassung der bisherigen Ermittlungen und Prozesse gegen Aysel Tuğluk enthalten, sind nur zwei Seiten den medizinischen Befunden über sie gewidmet. Wir sind uns bewusst darüber, dass der einzige Zweck der Rechtsmedizin, den Anklagen von Staatsanwälten gleichwertige Berichte vorzulegen, darin besteht, den tatsächlichen Gesundheitszustand von Aysel Tuğluk zu verschleiern. Es geht darum, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die gegen Tuğluk erhobenen Anschuldigungen zu lenken und damit Meinungsmanipulation zu betreiben“, sagte Koçak.
HDP-Abgeordnete und IHD-Aktivistinnen waren ebenfalls vor Ort
Istanbuler Kammer untätig für ihr Mitglied
Die Juristin kritisierte außerdem die Ignoranz der Istanbuler Rechtsanwaltskammer hinsichtlich der Situation von Aysel Tuğluk. „Wir verurteilen, dass unser Verband bisher nicht aktiv für unsere Kollegin geworden ist – die sogar Mitglied dieser Kammer ist. Wir Juristinnen wiederholen wir unseren Aufruf an den Vorstand, sich für die Freilassung von Aysel Tuğluk einzusetzen. Von den zuständigen Behörden fordern wir, unsere Kollegin umgehend freizulassen, um ihr eine menschenwürdige Behandlung zu ermöglichen.“
In Adana wurde die rechtsmedizin zu den Prinzipien „Ethik, Gewissen, Wissenschaft und Recht“ aufgerufen
Polizei löst Kundgebung in Ankara auf
In Ankara ging die Polizei gewaltsam gegen Juristinnen vor, die sich vor dem Haupteingang des Justizpalastes der Hauptstadt versammelt hatten. Die Kundgebung wurde mit Verweis auf ein angebliches Versammlungsverbot aufgelöst, daraufhin begaben sich die Frauen an einen der Nebeneingänge. Nurdan Kılıç appellierte an die Kammer in Ankara, die Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei sowie alle anderen zivilrechtlichen Verbände im Land, das „Recht auf Leben von Aysel Tuğluk und aller anderen kranken Gefangenen“ zu verteidigen.
Von Polizei eingekesselte Kundgebung
Tränengas und Gummigeschosse in Mersin
Gegen eine Mahnwache der der Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) vor dem Gerichtsgebäude der südtürkischen Küstenprovinz Mersin setzte die Polizei Tränengas und Gummigeschosse ein. Der Rechtsanwalt Ali Bozan wurde von einem Polizeikommissar vor laufender Kamera mit den Worten „Ich kenne dich sehr gut. Pass bloß auf, wir zwei werden uns noch begegnen“ bedroht. Weil die Beteiligten das Sit-in weiterhin nicht auflösten, wurden sie von Sicherheitskräften unter Anwendung teils massiver Gewalt in den Justizpalast gedrängt.
Ein mit Tränengas angegriffener Rechtsanwalt
Aufruf zur Solidarität in Wan und Colemêrg
In Wan und im benachbarten Colemêrg traf sich nahezu die gesamte kurdische Zivilgesellschaft vor den Rechtsanwaltskammern beider Provinzen, und verurteilte die Haltung der Rechtsmedizin. Es handele sich um eine Einrichtung, die eine Barriere für einen humanen Umgang mit kranken Inhaftierten darstellt und „Feindstrafrecht“ gegen sie statuiert, sagte die Juristin Mehtap İşik in Wan. Ihre Colemêrger Kollegin Harika Günay Karataş hob hervor, dass die Rechtsmedizin in der Türkei längst abgekehrt sei von ihrem Grundsatz, Forschung und Lehre für den Menschen zu betreiben. Stattdessen handele es als „verlängerter Arm“ des Regimes.
Öffentliche Presseerklärung in Wan
Izmir: Kranke Gefangene werden dem Tod überlassen
An der Ägäis-Küste in Izmir wiesen Vereine der Gefangenensolidarität darauf hin, dass sich die Situation von kranken Insassen türkischer Haftanstalten sich immer weiter verschlechtere. „Kranke Gefangene werden in diesem Land dem Tod überlassen“, sagte die Rechtsanwältin Meral Kaban. Diese Politik betreffe vor allem aus politischen Motiven inhaftierte Kranke, die nicht selten seit Jahrzehnten hinter Gittern sind. Kaban wies auf Zahlen des Menschenrechtsvereins IHD hin, wonach mindestens ein Drittel der mehr als 1.600 kranken Gefangenen als „schwerkrank“ gelistet werden.
Auch die Initiative der Friedensmütter fehlte nicht bei der Aktion in Izmir
„Nur in den wenigsten Fällen trifft die Rechtsmedizin Entscheidungen zu Gunsten der Betroffenen, aber erst dann, wenn sie schon so gut wie tot sind. Diese Einrichtung hat keine autonome Struktur und arbeitet im Sinne der AKP. Alle Entscheidungen sind politisch und stehen stellvertretend für die Institutionalisierung von Menschenrechtsverletzungen und Feindstrafrecht an Gefangenen. Wir fordern die umgehende Freilassung von Aysel Tuğluk und allen anderen Kranken hinter Gittern.“