Aktivitäten kultureller Bildung wie Musik, bildende Kunst, Theater, Literatur und Tanz können Kinder in ihrer persönlichen Entwicklung wirksam unterstützen. Etliche Studien belegen die Wirkungen kultureller Bildung auf andere Fähigkeitsbereiche, etwa die positive Wirkung musikalischer Aktivitäten auf die Sprachentwicklung. Dies gilt es in Kurdistan offenbar mit aller Kraft zu verhindern.
Am 27. November fanden in der Provinz Mêrdîn etliche Hausdurchsuchungen statt, bei denen 45 Personen vorübergehend festgenommen wurden. Unter ihnen befanden sich Gewerkschaftsmitglieder, Aktive der Lokalpolitik und Aktivistinnen der Initiative der Friedensmütter, doch der erhebliche Großteil der Betroffenen setzte sich aus Künstlerinnen und Künstler des Kulturzentrums Mesopotamien mit Sitz im Kreis Qoser (tr. Kızıltepe) zusammen. Grund für die Polizeiaktion waren Aktivitäten der Institution für Kinder und Jugendliche, die nicht nur in Mêrdîn pandemiebedingt unter die Räder gekommen sind. Den Alltag zu bewältigen ist seit Corona auch für die Jüngsten eine große Herausforderung. Das Kulturzentrum Mesopotamien wollte der Erfahrung von Stillstand, Einsamkeit und Unsicherheit daher mit kreativen Aktivitäten antworten, um Kinder und Jugendliche zu ermutigen und ihnen neue Perspektiven zu eröffnen.
Musikerin ein „Sicherheitsproblem“ wegen Liedern mit „Kurdistan“?
Für die türkischen Sicherheitsbehörden stellt die Möglichkeit der kulturellen Teilhabe in der Corona-Krise aber ein „Sicherheitsproblem“ dar. Die Mitglieder des Kulturzentrums wurden in Gewahrsam als „Terrorhelfer“ kriminalisiert, weil in Liedern, die bei ihren Veranstaltungen gesungen wurden, das Wort „Kurdistan“ vorgekommen sein soll. Einige Betroffene haben sich inzwischen an den Menschenrechtsverein IHD gewandt und Fälle von staatlicher Informantenanwerbung zur Anzeige gebracht. Der Musiker Abdullah Ayav etwa äußerte, massiv unter Druck gesetzt worden zu sein, um als Spitzel tätig zu werden. Für die Polizei wäre es ein Leichtes, ihn für Jahre hinter Gitter zu bringen, habe es geheißen. Man würde einfach Schülerinnen und Schüler oder Bekannte von ihm finden, die „gewisse belastende Aussagen“ über ihn tätigen könnten, sollte er der Forderung nicht nachkommen. Von ähnlichen Einschüchterungsversuchen berichteten auch Kudret Uçuk und Ruken Aslan, die ebenfalls für das Kulturzentrum Mesopotamien tätig sind.
Yüksel: Eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung
Im Fall von Vesile Yüksel ging es noch dramatischer zu. Die Mutter von zwei Kindern ist Mitglied der Frauenmusikgruppe Koma Dengê Jinên Azad. Am Tag der Durchsuchungen stürmten etwa dreißig maskierte Beamte der polizeilichen Spezialeinheiten (PÖH) in Kampfmontur ihre Wohnung, verwüsteten alle Räume und unterzogen sie einer Nacktdurchsuchung. „Je eher du die Leibesvisitation akzeptierst, desto früher werden wir dich aus der Wohnung führen“, sei Yüksel gesagt worden. „Es war eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Zur Begründung hieß es, meine Arbeit mache mich verdächtig. Nach der Nacktdurchsuchung brachten sie mich raus und legten mir vor den Augen etlicher Menschen Handschellen an.“
Ankara von EGMR verurteilt
Das Thema der Nacktdurchsuchungen in der Türkei war vor einem Jahr durch die Polizeiübergriffe auf Studierende der Istanbuler Boğaziçi-Universität erneut auf die Tagesordnung gelangt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte bereits 2016 einen Fall von einer Nacktdurchsuchung in dem Land als Rechtsverletzung verurteilt. Dies hielt das Regime in Ankara allerdings nicht davon ab, diese Praxis fortzusetzen. Beschränkten sich diese rechtswidrigen und teils gewalttätigen Leibesvisitationen bis vor einiger Zeit noch auf Gefängnisse und Polizeireviere, finden sie neuerdings bereits bei Hausdurchsuchungen statt. Die Umstände legen nahe, dass es um eine bewusste Bloßstellung der Opfer geht.
Wann kommt der Aufschrei der Gesellschaft?
„Zusätzlich zur Pandemie herrschen in Mêrdîn derzeit auch andere gravierende Probleme, die wir als Kulturzentrum Mesopotamien bekämpfen wollen. Da wären etwa Prostitution und Drogen, die auf dem Vormarsch sind. Damit wird offensichtlich versucht, Kinder und Jugendliche in Kurdistan handlungsunfähig zu machen. Unser Engagement, Minderjährige vor dem Abrutschen in die Sucht zu schützen, ist den Behörden ein Dorn im Auge. Was für eine Gefahr als Musikerin, die für Veranstaltungen Kinderclowns organisiert hat, die ein buntes Programm zum Lachen, Staunen und Mitmachen boten, kann ich für die Sicherheit dieses Landes denn darstellen, dass eine Nacktdurchsuchung erforderlich wäre?“, fragt Vesile Yüksel. In der Verantwortung für dieses Unrecht sieht die Künstlerin allerdings nicht nur die antikurdischen Sicherheitsbehörden, bei denen ohnehin Willkür an der Tagesordnung stehe. „Es ist auch dieses ohrenbetäubende Schweigen eines Großteils der Gesellschaft. Weil der Aufschrei ausbleibt, werden wir für Aktivitäten für Kinder als Terroristen kriminalisiert. Weil das Unrecht in den Gefängnissen und Polizeirevieren ignoriert wird, werden wir nun schon in unseren eigenen Häusern nackt durchsucht. Wir müssen endlich unsere Stimme erheben“, fordert Vesile Yüksel.