Die Plattform Kadın Cinayetlerini Durduracağız (Wir werden Frauenmorde stoppen) ist eine türkische Frauenrechtsorganisation, die Gewalt gegen Frauen erfasst und sich zur Aufgabe gemacht hat, öffentlich über Feminizide aufzuklären und diese zu verhindern. Laut ihrem jüngsten Bericht aus allen polizeilich erfassten oder medial veröffentlichten Morden an Frauen wurden im Oktober mindestens 36 Frauen in der Türkei umgebracht. Fast zweidrittel von ihnen wurden von gewalttätigen Ehemännern, Freunden oder männlichen Verwandten getötet, weil sie über ihr eigenes Leben entscheiden wollten. 13 starben unter ungeklärten Umständen. Damit hat sich für die ersten zehn Monate des Jahres die Anzahl der Feminizide auf 383 erhöht. Im letzten Jahr dokumentierte die Plattform sogar 440 Frauenmorde; mehr als in den Jahren zuvor. Die Dunkelziffer gilt allerdings als weit höher.
Wir hatten die Gelegenheit, anlässlich des internationalen Kampftags gegen Gewalt an Frauen mit Gülsüm Kav, Generalvertreterin der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen”, zu sprechen. Die Frauenrechtlerin sagt, dass nach wie vor Gewalt und Morde an Frauen in der Türkei das „drängendste und auch schmerzhafteste Problem” seien. Kav sieht das Gewaltproblem im traditionellen Rollenverständnis verankert.
Anwendung von Präventivgesetzen sollte oberste Priorität haben
„Um Gleichberechtigung und die Stellung der Frau in der Gesellschaft steht es hierzulande sehr schlecht. In dieser Hinsicht haben wir auch aufgrund unserer geografischen Lage Pech. Der Mittelmeerraum kann auf eine lange Geschichte patriarchaler Gewalt zurückblicken. Solange wir uns nicht mit diesen patriarchalischen Normen und traditionellen Geschlechterrollen auseinandersetzen, wird unsere Gesellschaft weiterhin Gewalt gegen Frauen begünstigen. Und diese Gewalt kostet Frauen das Leben.”
Gülsüm Kav kritisiert, dass staatliche Behörden wie das Innenministerium oder das Ministerium für Familie, Arbeit und soziale Dienstleistungen die Beseitigung und Prävention von Gewalt gegen Frauen nicht gewährleisten. Gesetze wie beispielsweise das Gesetz Nr. 6284, das nach Angaben der AKP-Regierung als „Schutzmantel für Frauen“ wirken soll, oder die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), würden nicht effizient durchgesetzt. Im Gegenteil: die Regelungen wirkten in die entgegengesetzte Richtung: „Das Gesetz 6284 soll Frauen vor Gewalt schützen und Täter sanktionieren. So steht es im Text. Fakt ist aber, dass strafwürdige Straftaten weiterhin ungestraft bleiben.” Schon seit Jahren bemängelt die Plattform, dass das Gesetz nicht implementiert wird. Opfer erhielten wenig Unterstützung und zu oft kämen die Täter mit Strafmilderungen etwa wegen „Provokation” oder „gutem Verhalten” davon, welche die Hemmschwelle von Gewalt deutlich senken.
Geschlechtsspezifische Ungleichheit in der Arbeitswelt fördert Gewalt
„Die Politik unterstreicht zwar, dass Maßnahmen zur Stärkung von Frauen erforderlich sind, um Gewalt zu verhindern. Aber das Ziel, geschlechtsspezifische Ungleichheit in der Arbeitswelt zu schließen, um so eine eigenständige Existenzsicherung für Frauen zu stärken und damit auch ihre Unabhängigkeit im emanzipatorischen Sinne voranzutreiben, wird nicht angestrebt. Die Situation ist prekär: Die Frauenarbeitslosigkeit in der Türkei ist die dritthöchste in Europa. Weltweit sind wir sogar Spitzenreiterin. Mindestens die Hälfte der erwerbsfähigen Frauen hat keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Und wir wissen, dass arbeitslose Frauen häufiger von häuslicher Gewalt betroffen sind.“
Zusammengefasst bewahre die Politik Frauen nicht vor dem Feminizid, sondern ermuntere Täter zu Gewalt, meint Kav. Hinzu kämen ständige Angriffe auf die Errungenschaften der Frauen wie Reformen des Unterhaltsrechts, die zugunsten von Männern umgesetzt werden. Auch sei eine qualitative Gesetzgebung zum Kinderschutz nicht gegeben.
Der alte Adam und die neue Eva
„Trotz diesen negativen Voraussetzungen hat sich bei Frauen ein Bewusstsein für ihre Rechte durchgesetzt. Immer mehr Frauen verlangen ihr Recht auf Selbstbestimmung und kämpfen dafür, doch die Mentalität der Männer bleibt dieselbe. Die alte Eva gibt es nicht mehr. Aber eine Korrektur des eingefleischten Adam-Bildes ist mühsam.” Kav erklärt, dass das türkische Forschungsinstitut Konda in einem aktuellen Bericht ebenfalls auf den Wandel von Frauen aufmerksam macht, während Männer weiterhin von Traditionen und patriarchalisch-dominiertem Denken geprägt seien. „Frauen werden getötet, weil sie grundlegende Rechte wir das Scheidungsrecht beanspruchen wollen. Dagegen finden Männer, die Frauen mit Gewalt daran hindern, ihre legitimen Rechte einzufordern, immer eine starke Schulter zum anlehnen.”
2020: Jahr der Lösung
Deshalb werde die Frauenbewegung in der Türkei ihren Kampf stärken, damit das Jahr 2020 in der Frauenfrage das Jahr der Lösung wird, betont die Frauenrechtlerin. „Ich glaube tief und fest daran, dass wir eine Welt erschaffen, in der wir alle frei von Gewalt sind.”