Fünftes Jineolojî-Camp im Schwarzwald

Im Schwarzwald hat vergangene Woche das fünfte Jineolojî-Camp in Deutschland stattgefunden. Das Camp wurde der kurdischen Revolutionärin Delal Nurhak gewidmet, die für den Aufbau autonomer Frauenstrukturen unerlässlich war.

In der vergangenen Woche sind über 50 Frauen und Menschen weiterer unterdrückter Geschlechter aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Katalonien im Schwarzwald zusammengekommen, um sich vier Tage gemeinsam und revolutionär zum Thema Jineolojî zu bilden. Das fünfte Jineolojî-Camp in Deutschland wurde der gefallenen Revolutionärin Delal Nurhak gewidmet, deren Arbeiten den Aufbau autonomer Frauenstrukturen innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung maßgeblich prägten.

Delal Nurhak: Kommandantin, Weggefährtin und Militante

Delal Nurhak wurde in Maraş (ku. Gurgum) in Nordkurdistan geboren und erlebte dort das Massaker des türkischen Staats an der alevitischen Bevölkerung. Dieses Massaker trieb viele, auch ihre Familie, in die Flucht bis nach Europa. Somit hat Delal Nurhaks politisches Leben in Deutschland begonnen, der kurdischen Befreiungsbewegung schloss sie sich 1989 an. Seit ihrem Beitritt zeigte sie in Verbundenheit mit Abdullah Öcalan und dem Befreiungskampf ein unvergleichbares Beispiel der Militanz und übernahm mit großem Erfolg wichtige Aufgaben. Sie war für verschiedene Arbeiten in Europa, Rojava und den Bergen Kurdistans zuständig und war Mitglied des Parteirats der PAJK und des Exekutivrats der KJK (Gemeinschaft der Frauen Kurdistans). Dabei geriet sie sowohl in türkische als auch in iranische Gefangenschaft. In den kurdischen Bergen übernahm sie als Kommandantin, Weggefährtin und Militante dem jeweiligen Bedarf entsprechende Aufgaben. Mit großer Überzeugung beteiligte sie sich auch an der Revolution von Rojava, wo sie in der gesellschaftlichen Arbeit tätig war. In allen ihren Arbeiten nahm sie eine wegweisende Rolle im ideologischen Kampf ein. Eine Freundin sagte über Delal Nurhak: „Wo sie auch hinging, sie war immer auf der Suche nach dem freien Leben in der Gesellschaft." Am 13. September 2019 kam Delal Nurhak bei einem Luftangriff der türkischen Armee in den Medya-Verteidigungsgebieten ums Leben.

Die Verbindung zum Schwarzwald

Das fünfte Jineolojî-Camp fand im Schwarzwald im Südwesten Deutschlands statt, einer traditionsreichen Gegend, die schon lange besiedelt ist. So haben bereits in der Vor- und Frühgeschichte Gemeinschaften im Schwarzwald gelebt. Lange Zeit lebten die Menschen in der Region in enger Verbundenheit mit der Natur und übten vielfältige Tätigkeiten im Handwerk aus, so zum Beispiel die Holzschnitzerei und Uhrmacherei. Im Zeitalter der kapitalistischen Moderne hat sich die Region stark verändert, allerdings sind die traditionsreichen, naturverbundenen Spuren noch immer vorzufinden.

Um die Region und ihre Natur besser kennenzulernen, machte die Gruppe an einem Mittag eine Wanderung durch die schönen Wälder und Berge des Schwarzwalds. Während der Wanderung wurden Methoden erprobt, um das Erzählen von Geschichten zu üben. Insbesondere in Europa wird Wissen fast ausschließlich in positivistischer, formaler Art und Weise geteilt. Dabei ist es wichtig, auch andere Formen der Wissensweitergabe zu erlernen. „Jahrtausendelang war das Erzählen von Geschichten auch in Europa die vorherrschende Form, um Erfahrungen, Wissen und
Lebensweisheiten weiterzugeben. Aus diesem Grund ist es wichtig, uns diese Fähigkeit, die wir als Gesellschaft weitgehend verlernt haben, wieder anzueignen", teilt das Jineoloji-Camp mit.

Kollektivität im Camp

Das gemeinschaftliche Leben wurde in sieben Kommunen organisiert, in denen Verantwortung füreinander und für das Camp übernommen wurde. Dadurch hatten die Teilnehmer:innen die Möglichkeit, sich eng miteinander auszutauschen und in den Diskussionen und dem miteinander geteilten Alltag eine tiefe Verbundenheit und gemeinsame Kraft zu entwickeln. Auch die in der Bildung diskutierten Konzepte von Hevaltî (Freundschaft, Genossenschaftlichkeit) und Hevjiyana Azad (Freies Zusammenleben) konnten im Camp in einem Rahmen abseits von den Zwängen des Alltags der kapitalistischen Metropolen in der Praxis erprobt werden.

Die Bildung wurde zu einem gemeinschaftlichen Ort der revolutionären Bildung und des Entwickelns, der den Teilnehmenden in der Suche nach einem freien Leben als freie Menschen neue Pfade eröffnet hat. Abends wurde getanzt und am Lagerfeuer wurden revolutionäre Lieder gesungen. Ein Abend war dem Gedenken an die Gefallenen des Frauenbefreiungskampfes gewidmet. Dabei stellten die Kommunen, die sich nach Gefallenen benannt haben, deren Leben und Wirken vor und trugen Geschichten, Lieder oder Gedichte vor. Zum Abschluss des Camps kamen die Teilnehmenden zu einem „Moralabend“ zusammen.

Die Jineoloji und das freie, gemeinschaftliche Zusammenleben

Die Jineoloji ist die Wissenschaft der Frau und des Lebens und spielt in der kurdischen Freiheitsbewegung eine elementare Rolle als wissenschaftliche Grundlage für den Befreiungskampf. Sie kombiniert eine tiefe Kritik an der positivistischen Wissenschaft, wie sie insbesondere in Europa vorherrschend ist, mit der eigenen Suche nach Wissen, dass der Befreiung der Gesellschaften und der Frauen dient. Dabei bezieht sich die Jineoloji besonders auf das Wissen von Frauen sowie der Gesellschaft aus Erzählungen und Mythen, da dieses Wissen an anderen Stellen häufig abgewertet oder nicht beachtet und auch zerstört wurde. Damit begibt sich die Jineoloji auf die Suche nach der Identität der freien Frau.

Auch die Erforschung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ist ein zentraler Teil der Jineoloji, da das freie Leben und die freie Frau nur durch die gemeinsame Organisierung entstehen können. Auch in den Vorträgen auf dem Camp drehte sich vieles um revolutionäre Perspektiven auf das Zusammenleben. So wurde auch das Konzept „Hevjiyana Azad" vorgestellt, welches ins Deutsche übersetzt etwa „freies gemeinschaftliches Zusammenleben“ heißt. Hevjiyana Azad bedeutet die Verbundenheit zwischen allen Lebewesen zu sehen und ohne Hierarchien und Herrschaft auf Augenhöhe frei zusammenzuleben. Im Camp konnten die Teilnehmenden intensiv diskutieren, was sie unter Freiheit verstehen und an welchen Stellen ihre eigenen Beziehungen unfrei sind. Dabei wurden auch konkret überlegt, wie im Alltag bedeutende Verbindungen zueinander aufgebaut werden können.

Zîlan, eine der Teilnehmenden, sagte über das Camp: „Es ist sehr schön, die Theorie über das kollektive freie Leben für einige Tage praktisch zu leben. Wir konnten im Rahmen der Bildung ein Stück weit das umsetzen, worüber wir reden. Die Vielfalt, die im demokratischen Konföderalismus sehr hochgehalten wird, wurde auch im Rahmen dieses Camps umgesetzt und gehört. Gerade in der Zeit des anhaltenden dritten Weltkrieges ist es wichtig, als Frauen eine organisierte Kraft in der Gesellschaft zu sein!"

Trans Day of Rememberance

Am 20. November, dem Trans Day of Rememberance, wird jedes Jahr ermordeter Trans- und geschlechtsdiversen Personen gedacht. Auch im Jineolojî-Camp wurde gemeinsam an die ermordeten Trans-Menschen erinnert und ihr Leben gewürdigt. Das Leben von Trans-Personen wird vom Patriarchat, welches durch die Zerstörung der natürlichen Gesellschaften als erste Herrschaftsform entstanden ist, alltäglich und dauerhaft bedroht. Eine Teilnehmende sagte dazu: „Das Patriarchat und den dominanten Mann können wir nur bekämpfen, indem Frauen und andere unterdrückte Geschlechter eine Kraft entwickeln, um sich selbst zu verteidigen."

Nach einer Gedenkminute wurde in die Geschichte des Trans Day of Rememberance eingeführt und an das Leben der schwarzen Trans-Frau Martha P. Johnson erinnert. Marsha P. Johnson war eine der ersten LGBT-Aktivist:innen in New York und nahm in den Stonewall-Aufständen, die als weltweiter Wendepunkt im Kampf für Gleichbehandlung und Anerkennung der LGBT-Bewegung gesehen werden, eine Vorreiterinnenrolle ein. Sie wurde am 6. Juli 1992 tot im Hudson River in New York aufgefunden. Der Mord an Marsha P. Johnson wurde jedoch nie untersucht, da er als Selbstmord eingestuft wurde.

Mit Kraft die aktuellen Angriffe auf Kurdistan beantworten

Am letzten Tag des Camps erreichte die Nachricht der Luftangriffe des türkischen Staates auf Rojava und Südkurdistan das Camps. „Es ist sehr wichtig, dass wir uns auch in schweren Zeiten wie diesen die Zeit nehmen, uns revolutionär zu bilden. Nur so können wie gestärkt und mit einer eigenen Perspektive unsere Arbeiten führen", sagte eine Teilnehmerin des Camps. „Gleichzeitig ist auch klar, dass die Angriffe ein neues Niveau erreicht haben und jetzt die Zeit gekommen ist, um zu handeln. Wir werden die Stärkung und Moral, die wir hier erlebt haben, mit in die Arbeiten in unsere Orte nehmen und die Angriffe des faschistischen türkischen Staats stoppen."
Um zu zeigen, dass sie Schulter an Schulter mit den Angegriffenen, der Guerilla und den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ stehen, schickte das Jineolojî-Camp zudem ein Solidaritätsvideo an alle Menschen, die für die Freiheit der Gesellschaften in Kurdistan und weltweit kämpfen.


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