Viertes Jineolojî-Camp in Deutschland

Vom 20. bis zum 24. April 2022 fand das vierte Jineolojî-Camp in Deutschland statt. Gewidmet wurde das Camp der in Rojava durch eine IS-Mine gefallenen Kämpferin Malda Kûsa.

In der Zeit vom 20. bis zum 24. April 2022 kamen 50 Frauen und Menschen anderer unterdrückter Geschlechter aus Nord- und Ostdeutschland zum vierten Jineolojî-Camp in Deutschland zusammen. Gewidmet wurde das Camp der Kämpferin Malda Kûsa, welche die Arbeiten der Jineolojî stark prägte und an deren wichtige Arbeit und Forschung während der Auseinandersetzung mit den Inhalten der Jineolojî angeknüpft wird.

Malda Kûsa: „Das ist eine Revolution“

Malda Kûsa wurde 1998 in Hesekê geboren. Sie wuchs mit zwei Sprachen auf, Kurmancî und Arabisch, und hatte Freund:innen und Nachbar:innen aus den kurdischen und arabischen Gemeinschaften. Sie beteiligte sich an den Jineolojî-Werken und koordinierte die Arbeit des Forschungszentrums Jineolojî im Kanton Hesekê. Sie leitete Bildungsprogramme und forschte. Nachdem sie eine Bildung für die Selbstverteidigungskräfte gegeben hatte, kehrte sie voller Begeisterung und Freude zurück. Von ganzem Herzen sagte sie:,'Das ist Revolution. 400 Männer hören einer Frau zu, die sie über Geschichte und die Wissenschaft der Frauen unterrichtet. In dieser Gesellschaft, in der die Männer im Mittelpunkt des ganzen Lebens standen, ist es jetzt möglich, dass eine Frau sie bildet.' Ihre Persönlichkeit und Einstellung sind ein Beispiel für die Entwicklung der jineolojischen Arbeit in Rojava. Malda war gerade 20 Jahre alt, als sie am 4. Mai 2019 auf dem Heimweg von ihren Arbeiten in der Region al-Hol durch eine Straßenmine des IS getötet wurde.

Wissen ist eine Form der Selbstverteidigung“

Das Jineolojî-Camp teilt weiter mit: „Doch auch in der jetzigen Zeit, in der sich die Angriffe auf Kurdistan wieder massiv verschärft haben, ist es wichtig, für einen Austausch über die revolutionäre Wissenschaft der Frauen und des Lebens zusammenzukommen. Wissen ist eine Form der Selbstverteidigung und diese ist wichtiger denn je. Dieses revolutionäre Wissen ist der Boden, auf dem die Veränderung der Gesellschaft gebaut werden kann und mit dem die Fäden der demokratischen Kräfte der Geschichte weiter aufgenommen werden können. Es ist aber auch wichtig, die Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf auf all seinen Ebenen zu zeigen und die Kämpfe zu teilen. So entstand ein kämpferisches Video im Rahmen des diesjährigen Jineolojî-Camps. Es hat eine sehr große Wichtigkeit, sich in dieser Zeit der massiven Angriffe und Krisen nicht alleine damit auseinanderzusetzen, sondern kollektiv im Austausch zu sein und gemeinsame Lösungen und Perspektiven zu entwickeln, die die demokratischen Werte und Bewegungen überall auf der Welt stärken. Eine revolutionäre Wissenschaft zu entwickeln, ist Teil davon, eine nachhaltige und widerständige gesellschaftliche Kraft zu werden.“

 

Kollektiver Alltag als Teil des Camps

Während der vielen inhaltlichen Eingaben war vor allem die kollektive Organisierung des Alltags in Kommunen ein wichtiger Bestandteil des Camps. Indem alle Verantwortung füreinander übernehmen und in enger Gemeinschaft zusammenleben, konnte gemeinsam ein Raum der Verbindung und der geteilten Erfahrung geschaffen werden, in dem eine offene Atmosphäre für Diskussionen und Nachfragen entstand.

Neben der kollektiven Organisierung des Alltags und dem Kennenlernen von verschiedenen Perspektiven ging es darum, das Wissen der ganzheitlichen Forschung der Jineolojî zu vertiefen, um dieses auch mehr in die jeweilige Praxis einbringen und mit den vermittelten Werten gestärkt weitergehen zu können. Wissen zu vertiefen bedeutet auch, die tiefere gesellschaftliche Analyse und ihre geschichtliche Veränderung zu verstehen.

Konzepte der Befreiungsbewegung wurden diskutiert

Zu Beginn des Jinelojî-Camps gab es grundlegende Vorträge und Diskussionen zu den Konzepten der Befreiungsbewegung sowie der Geschichte der Frauenbefreiungsbewegung Kurdistans. Es wurde über die Konzepte und Prinzipien der Bewegung gesprochen.

Hevaltî ist eines dieser Konzepte und beschreibt die genoss:innenschaftliche Liebe, die im Zentrum der revolutionären Praxis steht und mit der die alltägliche Vereinzelung durch die kapitalistische Moderne überwunden werden kann. Xwebûn bedeutet Selbstwerden und damit verbunden die Stärkung und die Suche der in uns ruhenden demokratischen Werte, um eine revolutionäre Persönlichkeit zu werden und die patriarchalen und kapitalistischen Strukturen in unserem Sein zu überwinden, denn „Wer kämpft, ist frei, wer frei ist, ist schön und wer schön ist, wird geliebt" (Abdullah Öcalan).

Darauf aufbauend wurde die Jineolojî als wichtiger Bestandteil der Frauenbefreiungsideologie eingeordnet und ihre Herangehensweise vorgestellt. Es wurden die drei Geschlechterbrüche und die Entstehung des Patriarchats diskutiert, aber auch über die erste Frauenrevolution gesprochen und sich kraftvoll darüber ausgetauscht, dass aktuell die zweite Frauenrevolution stattfindet. Auch der Austausch darüber, was Macht und Autorität unterscheidet hat, die Diskussionen geprägt. Eine Frage war auch, wie das Wort „Frau" im Sinne der Jineolojî definiert wird: Was bedeutet Frau? Was bedeutet Frau nicht?

Als eines der wichtigsten Konzepte der Jineolojî wurde auch zur Ethik und Ästhetik gearbeitet. Dabei geht es bei der Ethik um die historisch und gesellschaftlich gewachsenen Werte im Streben nach der Freiheit. Die Ästhetik hingegen beschreibt die Form. Für ein besseres Verständnis konnten dabei alle Teilnehmende in kleinen Gruppen ein kurzes Theaterstück entwickeln, in welchem sie eine ethisch-ästhetische Lösung eines selbstgewählten Konfliktes darstellten.

Verbindung zur Geschichte der demokratischen Kämpfe in Deutschland

Im weiteren Verlauf des Camps wurde auf die besonderen historischen Momente der demokratischen Kämpfe in Nord- und Ostdeutschland eingegangen, wie beispielsweise der Frauen-Lesben-Bewegung in der DDR, aber auch auf die ostfriesische Frauenfreiheitsbewegung seit dem Mittelalter. Die Verbindung zur eigenen Geschichte und zu den historischen demokratischen Kämpfen in der Region ist ein essentieller Aspekt der revolutionären Arbeit.

Inhaltlich abschließend wurde die Geschichte der Arbeiten im Bereich der Jineolojî und deren Entstehung an unterschiedlichen Orten aufgezeigt.

Ein Abend des diesjährigen Jineolojî-Camps stand unter den Sternen all der Freund:innen, die für den Kampf um Freiheit ihr Leben gaben. Dabei wurde Geschichten über und persönliche Erlebnisse mit gefallene Freund:innen geteilt und ihrem Kampf gedacht.

Wissen auf verschiedene und kreative Weisen zu vermitteln und zu verstehen, ist ein Ziel der Jineolojî und wurde durch eine große Methodenvielfalt wie zum Beispiel Improvisationstheater, Malen oder Gruppendiskussionen spürbar.

Mit Verbundenheit und Kraft in die Kämpfe gehen

Um gestärkt und mit Entschlossenheit weitere Schritte auf dem Weg hin zum Aufbau des demokratischen Konföderalismus gehen zu können, fand am letzten Tag ein Moralabend statt mit vielen kreativen und vielfältigen Beiträgen der Teilnehmenden. Es wurden Lieder gesungen, getanzt, gelacht, geweint und Geschichten erzählt.

Viele teilten das Gefühl von enger Verbundenheit und einer besonderen Energie, die durch das gemeinschaftliche Leben im Sinne der vermittelten Werte der Frauenbefreiungsideologie Kurdistan erlebt werden konnte.

Abschließend sagte eine Teilnehmerin kämpferisch: „Der Boden, auf dem wir stehen, fühlt sich fester an, und von diesem aus kann nun gemeinsam weiter und höher gesprungen werden."