Freispruch im Volksverhetzungs-Prozess für Leyla Güven

Weil sie Rechenschaft für Massaker an der kurdischen Bevölkerung gefordert hatte, war die in der Türkei inhaftierte Politikerin Leyla Güven wegen Volksverhetzung angeklagt worden. Nun wurde die 59-Jährige freigesprochen.

Die kurdische Politikerin Leyla Güven ist vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen worden. Eine Strafkammer des Landgerichts Silopi (ku. Silopiya) in der Provinz Şirnex (tr. Şırnak) bewertete eine Forderung der Angeklagten nach Rechenschaft für Massaker an der kurdischen Bevölkerung in ihrem Urteil am Dienstag als nicht strafbar. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Die Staatsanwaltschaft Silopi hatte Güven Volksverhetzung in einem besonders schweren Fall vorgeworfen. Kern der Anklage ist die Überzeugung der Behörde, die 59-Jährige habe eine „Hetzrede“ gehalten, um „gegen einen Teil der Bevölkerung zum Hass aufzustacheln, die Menschenwürde anderer dadurch anzugreifen und den öffentlichen Frieden zu stören“, hieß es unter anderem in der Anklageschrift.

Besagte Rede hielt Güven im Dezember 2020 auf einer Gedenkveranstaltung für Taybet Inan in Silopiya. Die 57-Jährige, die bereits zu Lebzeiten „Mutter Taybet“ genannt wurde, war während einer im Dezember 2015 ausgerufenen Ausgangssperre in der Kreisstadt vom türkischen Militär auf offener Straße erschossen worden. Inans Tod war besonders dramatisch, weil der Leichnam der elffachen Mutter sieben Tage lang nicht geborgen werden konnte. Die türkischen Sicherheitskräfte schossen auf alles, was sich bewegte. Ihr Schwager Yusuf Inan wurde bei dem Versuch, den toten Körper von Inan zu evakuieren, ebenfalls erschossen.

Leyla Güven im Gefängnis, 2022 © Sabiha Temizkan

Leyla Güven, die wenige Tage nach der Gedenkveranstaltung wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhaftet worden war und seither im Gefängnis sitzt, hatte an der Gedenkveranstaltung in ihrer Funktion als Ko-Vorsitzende der Graswurzelbewegung „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD) teilgenommen. In einer Ansprache erklärte sie damals: „Der Kampf um Gerechtigkeit für Taybet Inan und alle anderen Menschen, die Opfer der genozidalen Politik des türkischen Staates geworden sind, geht entschlossen weiter. Wir werden Rechenschaft verlangen von den Mördern, die auch heute Massaker an der kurdischen Gesellschaft begehen, um dieses Volk zu vernichten.“

An dem Prozess in Silopiya nahm Leyla Güven nicht persönlich teil, sondern wurde aus einem Gefängnis in Xarpêt (Elazığ) über ein Videokonferenzsystem in die Verhandlung eingebunden. In ihrer Verteidigungsrede sagte sie, dass sie hinter ihren Aussagen stehe. „Selbstverständlich werde ich den Staat und die Regierung kritisieren, wenn sie Vorfälle wie diese verursachen. Der Tod von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten ist unbedingt zu vermeiden. Wenn er dennoch in Kauf genommen wird, ist Kritik an diese Herangehensweise nur allzu menschlich – ob es dem Staat gefällt oder nicht.“ Ihr gesamtes politisches Leben lang habe sie nur eine Forderung gestellt: Den Krieg beenden und einen gerechten Frieden herstellen. Dieses Ziel gehe damit einher, den Tod von Zivilpersonen unbedingt zu verhindern. „Dafür werde ich bis ans Ende meiner Tage kämpfen.“

Wer ist Leyla Güven?

Leyla Güven befindet sich seit dem 21. Dezember 2020 hinter Gittern, derzeit im Hochsicherheitsgefängnis Elazığ. An jenem Tag wurde die Mutter von zwei Kindern in Amed (Diyarbakir) wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft zu einer Freiheitsstrafe von 22 Jahren und drei Monaten verurteilt. In der Person Leyla Güvens stilisierte das Gericht in seinem Urteil die matriarchale Frühgeschichte der Völker Mesopotamiens zum Feindbild für die Sicherheit des türkischen Staates. Wenige Monate zuvor war Güven das Abgeordnetenmandat entzogen worden. Im Juni 2021 wurde die Haftstrafe bestätigt.

Vergangenen Oktober wurde Güven erneut zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, ebenfalls in Amed, diesmal jedoch wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“. Elf Jahre und sieben Monate Haft erhielt sie für ihre Äußerungen in drei verschiedenen Reden, die sie als Abgeordnete getätigt hatte. Rund ein Jahr zuvor hatte bereits ein Gericht in Colemêrg (Hakkari) wegen desselben Vorwurfs eine fünfjährige Haftstrafe gegen Güven verhängt. Zum ersten Mal im Gefängnis ist sie jedoch nicht.

Erstmals verhaftet wurde Leyla Güven 2009 im Rahmen der international kritisierten „KCK-Operationen”, frei kam sie erst nach fünf Jahren. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung war sie Bürgermeisterin der kurdischen Stadt Wêranşar (Viranşehir). Im Januar 2018 wurde Güven erneut in Untersuchungshaft genommen, diesmal wegen ihrer Kritik am türkischen Angriffskrieg gegen Efrîn in Nordsyrien. Damals erlangte sie auch internationale Bekanntheit, als sie im darauffolgenden November aus ihrer Haft heraus eine 200-tägige Hungerstreikbewegung für die Aufhebung der Isolationshaftbedingungen für den seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan initiierte. Im Juni 2020 wurde Leyla Güven erneut verhaftet, nur wenige Stunden nachdem das Parlament in Ankara ihnen ihr Mandat und damit auch ihre Immunität entzogen hatte. Als Begründung wurde das inzwischen rechtskräftige Urteil im KCK-Verfahren herangezogen. Weitere Prozesse gegen Güven sind anhängig.