Ehmed: Es geht nun darum, die besetzten Gebiete zu befreien

Die YPJ-Generalkommandantin Newroz Ehmed blickt auf das Jahr 2020 zurück und kündigt eine Ausweitung des Widerstands an: „Wir haben den Kampf gegen den IS angeführt und werden auch in Zukunft eine größere Rolle spielen.“

Die Generalkommandantin der Frauenverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Jin, YPJ) in Nordsyrien, Newroz Ehmed, bilanziert im ANF-Interview das Jahr 2020 und gibt einen Ausblick auf die kommende Phase.

In der von der Türkei besetzten Region Efrîn finden schwerste Menschenrechtsverletzungen statt. Wie gehen Sie als YPJ mit dieser Situation um?

Efrîn war eine der Regionen, in denen die YPJ von Anfang an am stärksten waren. Durch die YPJ setzte ein Prozess der Selbsterkenntnis bei den Frauen ein. Das Selbstbewusstsein wuchs und Frauen nahmen mit großer Entschlossenheit in allen gesellschaftlichen Bereichen an der Arbeit teil. Im Kampf gegen die Efrîn-Invasion spielten Frauen eine Führungsrolle. Ich möchte hier explizit an Barîn Kobanê und Avesta Xabûr erinnern, die für so viele weitere Frauen stehen. Ihr Widerstand steht für die hingebungsvolle Haltung und die Verbundenheit mit dem Land im Kampf gegen die Besatzer. Auch die Bevölkerung ist bewusst geworden, dass Freiheit nur durch Opfer und Widerstand erreicht werden kann.

Vergeltung für Verbrechen der Invasionstruppen

Der Angriff auf Efrîn zielte darauf ab, über die Frauen die Gesellschaft zu brechen. Deswegen wurden insbesondere Frauen vom türkischen Staat bei der Invasion ins Visier genommen. Sowohl während als auch nach dem Krieg kam es zu systematischer Gewalt und Übergriffen sowie Vergewaltigungen. So wurde die Gesellschaft insgesamt mittels der Angriffe auf Frauen in große Gefahr gebracht. Der türkische Staat versucht ständig, den Willen der Gesellschaft und insbesondere des kurdischen Volkes durch Angriffe auf die Identität als freie Frau zu brechen.
Wir sehen es daher als unserer Hauptaufgabe an, ein Bewusstsein darüber zu schaffen und für die organisierte Kraft von Frauen einzutreten. Als Verteidigungseinheiten ist es unsere grundlegende Pflicht und Verantwortung, Vergeltung an den Invasionstruppen für diese Verbrechen zu üben und aktiv zu kämpfen. Als Frauen wollen wir unser Volk gegen die Invasionsangriffe verteidigen. Wir wollen die Frauen organisieren und für sie eintreten.

Am 27. Januar 2018 sprengte Avesta Xabûr sich selbst und einen türkischen Panzer in die Luft, um ein Massaker im Dorf Hemam in Efrîn-Cindirês abzuwenden.

Taktische und politische Weiterentwicklung der YPJ im Jahr 2020

Auf der 2. Konferenz der YPJ Ende 2019 wurde beschlossen, die Avantgarderolle der Frauen auszubauen. Welche Aktivitäten haben Sie in diesem Sinne 2020 unternommen und was sind Ihre Ziele in Bezug auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft?

Es war eine sehr wichtige Konferenz. Die Invasionsangriffe auf unsere Region wurden gegen Ende des Jahres 2019 intensiviert. Vor der Konferenz hatten sich viele gefragt, wie die Perspektive der militärischen Kräfte nach dem Sieg über den IS aussehen sollte. Daher wurden die Ergebnisse der Konferenz mit großer Neugier erwartet. Die Angriffe auf Serêkaniyê und Girê Spî haben gezeigt, wie richtig unsere Entscheidung war und dass wir noch stärker werden müssen. Im Jahr 2020 haben wir uns damit beschäftigt, die Folgen der Invasionsangriffe auszuwerten und uns sowohl politisch und ideologisch als auch militärisch weiterzuentwickeln. Wir haben uns darum bemüht, das historische Bewusstsein zu vertiefen. Weiter ging es darum, ein Geschlechterbewusstsein zu entwickeln und mit der Erfahrung aus dem Krieg unsere Fehler und Unzulänglichkeiten zu überwinden. Wir haben versucht, unsere bestehende Kraft weiter zu organisieren, Taktiken gegen die Technik, die der türkische Staat von der NATO erhalten hat, und gegen seine mit internationaler Unterstützung ausgeführten Angriffe zu entwickeln. Dabei ging es vor allem auch um eine Restrukturierung. Wir haben sowohl Anstrengungen unternommen, um uns selbst und unser Volk besser zu schützen, als auch um effektiver zuzuschlagen und Ziele zu neutralisieren. Hierzu haben wir in diesem Jahr intensive Bildungsprogramme an unseren Akademien durchgeführt.

Bewusstsein über Selbstverteidigung mit der Gesellschaft teilen

Als militärische Kraft war es uns wichtig, dieses Bewusstsein mit der Gesellschaft zu teilen. Es wurde deutlich gemacht, wie sich die Frauen im Besonderen und die Gesellschaft im Allgemeinen organisieren und verteidigen sollten. Dabei ging es uns vor allem um die Invasionsangriffe. In dieser Hinsicht haben unsere Pflichten und Verantwortlichkeiten in 2020 noch zugenommen. Wir haben alles getan, um diesen Anforderungen zu entsprechen. Und wir müssen unsere Aufgaben und Verantwortlichkeiten in diesem Bereich weiterführen, denn auch wenn das Jahr zu Ende ist, dauern unsere Pflichten an. Wir haben einiges erreicht, aber müssen uns im kommenden Jahr weiter stärken. Die Angriffe und Drohungen gegen die Region nehmen täglich zu. Wir werden in Zukunft eine größere Rolle spielen, so wie wir zuvor den Kampf gegen den IS angeführt haben.

Newroz Ehmed gehört auch der Generalkommandantur der YPG an

Erwartungen der Gesellschaft einbeziehen und soziale Revolution voranbringen

Wie war die Beteiligung von Frauen im Jahr 2020 an den YPJ und zu welchen sozialen Veränderungen führt diese?

Nicht nur auf dem Schlachtfeld oder im militärischen Bereich, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich haben die Hingabe und Werte der YPJ einen tiefen Eindruck hinterlassen. Dies hat zu einem Anwachsen der Beteiligung, nicht nur aus dem kurdischen Volk, sondern auch aus den übrigen Teilen der Gesellschaft geführt. Es stimmt, es hat wichtige Entwicklungen gegeben. In der Bevölkerung hat sich ein Bewusstsein darüber entwickelt, dass die mit der Revolution errungenen Werte und Möglichkeiten nur garantiert werden können, wenn sie stärker geschützt werden. Dieses Bewusstsein wuchs insbesondere nach der Invasion in Girê Spî und Serêkaniyê bei der Jugend, aber auch in den restlichen Gesellschaftsgruppen. Der Wandel und die Entwicklung bei den Frauen haben sich überall ausgewirkt. Wir haben uns besonders darum bemüht, die Familien, die ihre Töchter in die Reihen der YPJ entsandt haben, zu stärken und zu bilden. Dies führte zu einem grundlegenden Wandel in der Gesellschaft. Wie gesagt, unsere Pflichten und Verantwortlichkeiten als YPJ haben deutlich zugenommen. Es sind unsere Hauptaufgaben, auf die Erwartungen aller Teile der Gesellschaft, das heißt auch der arabischen, der armenischen und der Suryoye-Bevölkerung, einzugehen, die soziale Revolution voranzubringen und Möglichkeiten zu untersuchen, wie wir uns besser gegen Angriffe verteidigen können. Fast alle Frauen, die im politischen, wissenschaftlichen und administrativen Bereich tätig sind, sagen: ‚Wir haben die Kraft dafür von den YPJ bekommen.‘ Das zeigt eine Realität, die eine entsprechende Wirkung entfaltet hat.

Internationale Beteiligung an YPJ dauert an

Die YPJ haben auch weltweit tiefen Eindruck bei Frauen hinterlassen. Ging das 2020 so weiter, und falls ja, welche Entwicklungen gab es?

Wenn wir die Welt betrachten, dann nehmen Unterdrückung, Femizide und die Entmündigung von Frauen, wenn auch nicht da, wo wir uns befinden, tagtäglich zu. Das liegt daran, dass sich die Frauen organisieren und wir das 21. Jahrhundert als Jahrhundert der Frauen betrachten können. In vielen Bereichen können wir sehen, dass Frauen in den Vordergrund treten. Wenn so etwas passiert, ist es klar, dass Angriffe zunehmen. Wir können diese Entwicklung an vielen Orten der Welt beobachten. Wir hatten verschiedene Pläne, wie wir Frauen, die weltweit kämpfen und Widerstand leisten, die sich organisieren oder es zumindest wollen, erreichen können. Das war noch stärker in der Zeit des Kampfs gegen den IS so. Aber dennoch ging unsere Arbeit in dieser Hinsicht weiter. Die Beteiligung von Frauen aus vielen Teilen der Welt und anderen Nationen dauert an. Sie schließen sich den YPJ an, es gibt großes Interesse. Dies ist sicherlich eine Konsequenz aus dem Eindruck, den wir weltweit hinterlassen haben. Allerdings haben die Angriffe, die Bedrohung der Region und die Pandemie unsere Arbeit in dieser Hinsicht im vergangenen Jahr behindert. Mit anderen Worten, es gab Hindernisse, alle zu erreichen oder für viele, zu uns zu kommen. Das stellte zwar ein Problem dar, aber durch virtuelle Kommunikation und Technik waren wir in der Lage, alle Kontinente der Welt zu erreichen. Das reicht natürlich nicht aus und wir müssen in dieser Hinsicht die Arbeit verstärken. Denn ein wichtiges Standbein unserer Revolution ist die weltweite Auseinandersetzung damit.

Die Welt braucht eine demokratische und freiheitliche Revolution

Auf der ganzen Welt besteht Bedarf nach einer demokratischen und freiheitlichen Revolution. An vielen Orten rund um den Globus haben sich Frauen für Freiheit und Gleichheit und für die Verteidigung ihrer Identität organisiert. Ihre Beteiligung am Kampf hat eine große Kraft offenbart. Wenn wir uns noch stärker organisieren und zusammenarbeiten, können wir große Ergebnisse erzielen.

Die YPJ-Kommandantin Barîn Kobanê verteidigte bei der Invasion von Efrîn die Bilbilê-Front. Am 30. Januar 2018, als ihre Munition fast verschossen war, befahl sie ihrer Einheit den Rückzug. Sie hielt so lange ihre Stellung, bis die Gruppe in Sicherheit war. Mit ihrer letzten Kugel erschoss sie sich selbst, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Ihre Leiche wurde von protürkischen Dschihadisten misshandelt und mit Messern verstümmelt. Die Aufnahmen der Leichenschändung wurden von Islamisten in sozialen Netzwerken geteilt.

 

Was sind Ihre Planungen für das Jahr 2021?

Wir befinden uns in einer wichtigen Phase. 2020 hat für unsere Bevölkerung sehr traurige Ergebnisse gebracht. Viele Menschen wurden zum Opfer von Vertreibungen. Sie sind von ihrem Zuhause und ihrem Land abgeschnitten. Sie müssen als Flüchtlinge im eigenen Land leben. Das ist eine sehr schmerzhafte Realität. In Efrîn, Girê Spî, Serêkaniyê und den neuerlich angegriffenen Gebieten herrscht eine solche Situation. Die Angriffe und die Bedrohung nehmen in allen Gebieten weiter zu.

Besetzte Gebiete befreien

Wir haben 2020 hinter uns gelassen, aber unser Kampf geht weiter. 2021 wird ein wichtiges Jahr in unserem Widerstand. Wir haben Konsequenzen aus unserer Bewertung von 2020 gezogen. Auf dieser Grundlage sind wir bereit, im bevorstehenden Kampfjahr mit mehr Kraft und Entschlossenheit sowohl politisch als auch militärisch vorzugehen. In diesem Zusammenhang nehmen wir das Bewusstsein, die Organisierung und auch die Forderungen unserer Gesellschaft wahr. Es geht nun in erster Linie darum, die besetzten Gebiete zu befreien und dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung nach Hause zurückkehren kann. Darüber hinaus ist es als Reaktion auf die anhaltenden Angriffe unsere grundlegendste und wichtigste Pflicht als YPJ, dieses Land und seine Bevölkerung zu verteidigen. Es geht darum, sich in jeder Hinsicht auf das kommende Jahr vorzubereiten und auf Entwicklungen zu reagieren. Wir haben unsere Vorbereitungen auf ein entscheidendes Niveau gebracht und weitgehend abgeschlossen. Wir sind gerade dabei, die verbleibenden Defizite aufzuarbeiten.

Rojava-Revolution ist universelles Lösungsmodell

In Bezug auf die Selbstverwaltung ist es unser Ziel, die Erfahrungen und Errungenschaften der Frauen durch die Revolution zu verteidigen. Das Lösungsmodell, das mit der Revolution von Rojava entstanden ist, ist eine Perspektive für den ganzen Mittleren Osten, insbesondere in Syrien. Denn es handelt sich um das Gebiet, in dem am meisten Widersprüche existieren und der heftigste Krieg herrscht. Wir sollten daher dieses Modell weiter stärken und verteidigen und zu einem Beispiel für die ganze Welt machen. Natürlich sind wir überzeugt davon, dass dies unter Führung der Frauen und der Jugend geschehen muss. Unsere Hoffnung für das Jahr 2021 ist groß. Mit den zunehmenden Angriffen wachsen gesellschaftliches Bewusstsein und Organisierung. Die Angriffe haben uns stärker gemacht.

Wir können es für die Frauen der ganzen Welt sagen: wir müssen den Kampf ausweiten und zum Erfolg führen. Dieses Jahr müssen wir die Revolution der ganzen Welt widmen, indem wir für die Freiheit von Abdullah Öcalan, des kurdischen Volkes und der ganzen Region sorgen. Dafür werden wir kämpfen. Wir werden unsere Pflicht und Verantwortung erfüllen, um unseren Werten, unseren Opfern und denjenigen, die in diesem Kampf ihr Leben gegeben haben, gerecht zu werden.