Sabiha Temizkan ist Journalistin – und Tochter der kurdischen Politikerin Leyla Güven, die seit 91 Tagen gegen die Isolation des PKK-Gründers Abdullah Öcalan im Hungerstreik ist. Am 87. Tag ihres Hungerstreiks führte Sabiha Temizkan für die pro-kurdische Tageszeitung Yeni Yaşam Gazetesi ein Interview mit ihrer Mutter. Die Journalistin sagt dazu: „Es ist schwierig, seine eigene Mutter zu interviewen, besonders wenn sie seit 87 Tagen im Hungerstreik ist. War Ihre Mutter jemals in einem Hungerstreik? Normalerweise sind es die Kinder, die ihren Körper in diesen Zustand versetzen und Mütter, die Tränen vergießen. Aber wenn Sie eine Mutter wie die meine haben, ist es ein wenig anders. Sie fragen, wie? Es ist eine Mutter, die sagt; ‚Ich konnte nicht einfach nur an meine eigenen Kinder denken, weil ich eine Mutter kennenlernte, die in Cizîr tagelang die Leiche ihrer Tochter Cemile in einer Gefriertruhe verstecken musste’, und die Sorgen anderer zu ihren eigenen macht. Ja, ich spreche von Leyla Güven, meiner Mutter. Seit dem ersten Tag ihres Hungerstreiks habe ich versucht, ihre Gefühle richtig zu vermitteln, doch mit ihrem Willen hatte sie es schon längst selbst getan. Als Journalistin fragte ich sie nun: ‚Fiel es dir nicht schwer, als Mutter eine solche Entscheidung zu treffen?‘. Es war das bisher schwierigste Interview in meinem Leben“.
Mit dir begann der Hungerstreik. Du bist mittlerweile zu einer Symbolfigur für den Protest geworden. Nach deiner Haftentlassung wurde versucht den Eindruck zu erwecken, du hättest deinen Protest beendet. Kam es im Zuge dessen zu einer Stille?
Ich begreife meinen Protest als eine Art Aufschrei inmitten der Dunkelheit. Ich habe mich gefragt, wer wohl meinen Schrei hören würde. Würde es gelingen, mir bei den Institutionen und Organisationen Gehör zu verschaffen? Würde auch auf internationaler Ebene meine Stimme gehört werden? All diese Frage habe ich mir gestellt. Mir ging es nicht darum, meine Person in den Vordergrund zu rücken, sondern die Totalisolation Abdullah Öcalans. Meine Absicht ist es, dieses Menschenrechtsverbrechen zu beenden. Als ich aus der Haft entlassen wurde erkannte ich, dass mein Aufschrei und mein Protest nach draußen gelangt und dort wahrgenommen wurden. Das hat mich sehr glücklich gemacht.
Du warst sieben Monate lang als HDP-Abgeordnete in türkischer Haft. Rechtlich hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert. Wie hast du selbst auf deine Haftentlassung reagiert?
In der Türkei wird alles dafür getan, dass meine Stimme und mein Protest nicht wahrgenommen werden. Ein Hungerstreik im Gefängnis hat eine größere Strahlkraft. Dem türkischen Staat geht es darum, genau das zu verhindern. Vielleicht wollten sie auch, dass ich meinen Hungerstreik beende. All das zeigt natürlich, dass die Justiz in der Türkei nicht im geringsten unabhängig ist.
Jeden Tag versammeln sich zahlreiche Menschen vor deinem Haus, um ihre Unterstützung für dich zum Ausdruck zu bringen. Die türkische Polizei hat die Umgebung deines Hauses mit Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen praktisch abgeriegelt. Sie greift die protestierenden Menschen immer wieder an. Warum tut die Polizei das deiner Meinung nach?
Unsere Bevölkerung hat großen Respekt vor ihren gewählten Vertreter*innen, Führungspersönlichkeiten und ihren Werten. Dem Staat mach das große Angst. Er fürchtet sich davor, dass der Protest sich auf breite Teile der Bevölkerung ausweitet. Deshalb haben sie mich bei meiner Haftentlassung praktisch in aller Stille aus dem Gefängnis ‚entführt’, um kein Aufsehen zu erregen. Ich merkte damals sofort, dass sie mich nicht all den Menschen zeigen wollten, die gekommen waren, um mich vor den Gefängnistoren in Empfang zu nehmen. Jeden Abend kommen die Menschen nun vor mein Haus, um mir ihre Grüße und ihre Unterstützung auszurichten. Die Polizei reagiert darauf mit dem Einsatz von Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen. Der türkische Staat versucht den Eindruck zu vermitteln, die kurdische Bevölkerung würde sich nicht für ihre eigenen Werte einsetzen. Aber das stimmt nicht. Trotz des Faschismus und der omnipräsenten Unterdrückung in der Türkei kommen die Menschen vor meinem Haus zusammen und protestieren.
Du hast einmal gesagt, dass du in den Hungerstreik getreten bist, weil dir im Gefängnis keine anderen Protestmöglichkeiten übrig geblieben waren. Jetzt wurdest du aus der Haft entlassen. Ich möchte eine Frage an dich weiterleiten, die mir oft gestellt wird: Du bist nun nicht mehr in Haft und verfügst über den Status einer Abgeordneten. Hast du keine anderen Optionen, um gegen die Totalisolation Abullah Öcalans zu protestieren?
Ich glaube an die Wirksamkeit demokratischer Politik und engagiere mich in diesem Rahmen seit ca. 25 Jahren. Die Türkei unter der AKP hat alle Ebenen der demokratischen Politik umfassenden Angriffen ausgesetzt. Von den Stadtverwaltungen bis zu den Parlamentsabgeordneten wurden all diejenigen bestraft, die sich für eine demokratische Politik eingesetzt haben. Wir alle sind von den Folgen dieser Politik betroffen. Unsere HDP-Abgeordneten haben ihre Immunität verloren und wurden festgenommen. Die beiden [ehemaligen] Ko-Vorsitzenden der HDP wurden unter fadenscheinigen Vorwänden und ohne jegliche rechtliche Grundlage inhaftiert. Unsere Kommunalverwaltungen wurden unter Zwangsverwaltung gestellt. Alle unsere Institutionen, die sich für eine demokratische Politik einsetzten, wurden geschlossen. Mit all diesen Maßnahmen sollte uns eine Botschaft gesendet werden: Wir werden euch niemals erlauben, Politik auf der Grundlage eurer kurdischen Identität zu betreiben. Unsere Bevölkerung hat darauf bei den Wahlen sowohl am 7. Juni und 1. November 2015, als auch am 16. April 2017 und am 24. Juni 2018 eine klare Antwort gegeben: ‚Wir werden uns eurer Macht gegenüber nicht beugen’. Weil auch unsere gewählten Vertreter*innen Haltung bewahrt haben, wurden sie zu Angriffszielen der AKP. Hinter all dieser Ungerechtigkeit steht die Totalisolation Abdullah Öcalans. Sie ist das grundlegende Problem hinter all den Dingen, die ich aufgezählt habe. Und das obwohl Herr Öcalan lange Zeit am Verhandlungstisch mit Vertretern des türkischen Staates saß, um eine friedliche Lösung zu finden. Ja, ich bin im Gefängnis in den Hungerstreik getreten und trotz meines kritischen Gesundheitszustandes wurde meine Forderung nach der Aufhebung der Totalisolation Abdullah Öcalans bisher nicht entsprochen. Von daher werde ich meinen Protest bis zum Ende mit aller Entschlossenheit weiter führen.
Würdest du ins Parlament nach Ankara gehen, wenn dein Gesundheitszustand dir das erlaubt?
Wir werden auch in Zukunft das Parlament nutzen, um eine Lösung zu finden. Diesen Weg lehnen wir ja nicht ab. Aber Amed (Diyarbakir) gibt mir eine ganz besondere Kraft. Das hat mit der Geschichte und Gegenwart dieser Stadt zu tun. Denn hier im Gefängnis von Amed wurde in der Vergangenheit mit aller Entschlossenheit Widerstand geleistet und auch heute setzen dutzende Frauen diesen Widerstand fort. Hinzu kommt, dass mein Gesundheitszustand den Gang nach Ankara unmöglich macht. Daher habe ich mir vorgenommen, meinen Hungerstreik bis zum Ende hier in meiner Wohnung in Amed fortzusetzen.
Während du deinen Hungerstreik im Gefängnis führtest, kam es zu einem Treffen zwischen Abdullah Öcalan und seinem Bruder Mehmet Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali. Doch du bestehst weiterhin darauf, dass Herr Öcalan sich mit seinen Anwält*innen treffen kann. Warum?
Der türkische Staat hat dieses Treffen veranlasst und gehofft, dass ich und all die anderen Hungerstreikenden in den türkischen Gefängnissen unseren Protest beenden würden. Doch genau dasselbe haben wir bereits im Jahr 2016 erlebt. Damals hatten 50 Politiker*innen, u.a. auch ich, einen Hungerstreik begonnen, um eine Nachricht von Abdullah Öcalan zu erhalten. Kurz zuvor war es zu einem Putschversuch in der Türkei gekommen und wir wussten nicht, ob Herr Öcalan noch lebte. Am achten Tag unseres Hungerstreikes wurde ein Treffen zwischen Mehmet Öcalan und Abdullah Öcalan veranlasst. Daraufhin brachen wir unseren Hungerstreik ab. Doch dieses Mal haben wir unsere Forderungen eindeutig formuliert. Alle Gefangenen in türkischen Gefängnissen haben das Recht, dreimal im Monat Besuch zu empfangen, auch von Anwält*innen. Neben Herrn Öcalan befinden sich drei weitere politische Gefangene auf der Gefängnisinsel Imrali. Ihnen allen wird seit Jahren verboten, Besuch von Familienangehörigen zu empfangen. Wir fordern, dass Herr Öcalan und die drei weiteren Gefangenen ihre gesetzlichen Rechte wahrnehmen können und Besuch von ihren Anwält*innen und Familien empfangen dürfen. In den türkischen Medien wird versucht, unsere Forderungen zu verfälschen und den Eindruck zu vermitteln, als würden wir andere Dinge fordern. Es ist dringend notwendig, dass Herr Öcalan seiner Stimme Gehör verschaffen kann, denn er ist eine Schlüsselfigur für den gesamten Mittleren Osten. Wenn die Türkei die kurdische Frage durch einen Dialog lösen möchte, muss sie die Isolation Abdullah Öcalans beenden. Ich hoffe, dass die türkischen Staatsvertreter diese Notwendigkeit erkennen und sehr bald die notwendigen Schritte unternehmen.
Die Öffentlichkeit reagierte mit großem Interesse auf die Nachricht über das Treffen zwischen Herrn Öcalan und seinem Bruder. Die HDP verkündete kurz nach dem Treffen, man werde innerhalb der nächsten Tage Details zum Treffen veröffentlichen. Kurz darauf wurde erklärt, das Treffen habe nur sehr kurz gedauert und es sei ausschließlich über die gesundheitliche Situation gesprochen worden. Wurdest du über die Einzelheiten des Gesprächs auf Imrali informiert?
Mir wurde berichtet, das Treffen habe 15 Minute gedauert und Herr Öcalan befinde sich in einem guten gesundheitlichen Zustand. Nach meiner Haftentlassung besuchte mich Mehmet Öcalan und bestätigte mir dies noch einmal persönlich. Ich halte das jüngste Treffen auf Imrali keinesfalls für bedeutungslos, doch für die Beendigung meines Hungerstreikes reicht das nicht.
Ich möchte dir eine Frage als deine Tochter stellen. Seit geraumer Zeit versuche ich eine Antwort auf folgende Frage zu finden: War es für dich als Mutter schwer, die Entscheidung für einen unbefristeten Hungerstreik zu fällen? Was empfandest du dabei?
In Kurdistan ist es nicht einfach eine Mutter zu sein. Das gleiche gilt für Kinder. Um in Kurdistan als Mensch leben zu können, muss man Opfer bringen. Wir haben viel Schmerz erleiden müssen. Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 wurden Mütter stundenlang vor den Gefängnistoren zusammengeschlagen, nur weil sie ihre Kinder für fünf Minuten sehen wollten. Erinnern wir uns an das Kind von Mutter Taybet [Taybet Inan]. Vor seinen Augen wurde seine Mutter erschossen. Doch aufgrund des Dauerbeschusses durch das türkische Militär konnte niemand den Leichnam der Mutter bergen und er blieb eine Woche lang auf der Straße. Der Leichnam der kurdischen Frau Ekin Wan wurde von türkischen Soldaten geschändet. Auch sie hatte eine Mutter, einen Vater und Geschwister. Ich kenne die Mutter von Cemile Çağırga. Cemile wurde in der Stadt Cizre von türkischen Soldaten erschossen und musste aufgrund der Ausgangssperre eine Woche lang in einer Gefriertruhe aufbewahrt werden. Wir sind die Kinder eines Volkes, das all dieses Leid erlebt hat. Als ich mich entschloss in den Hungerstreik zu treten, war ich mir bewusst, dass es nicht einfach werden würde. Ich selbst habe Kinder und sogar Enkel. Doch erst wenn alle Kinder in Kurdistan in Freiheit leben, bin auch ich selbst frei. Mit diesem Bewusstsein habe ich begonnen zu kämpfen. Vedat Aydın, Mehmet Sincar, Savaş Buldan, Muhsin Melik – sie alle waren verheiratet und hatten Kinder. Ihre Kinder mussten ohne sie aufwachsen, weil sie ermordet wurden. Ich bin mir deshalb sicher, dass meine Familie, meine Kinder mich verstehen können. Während der 25 Jahre, in denen ich kämpfe, habe ich die größte Unterstützung durch meine eigene Familie erhalten. Es war ein großer Schmerz für mich, sowohl den Tod meines Vaters, als auch meiner Mutter aus der Ferne im Gefängnis mitverfolgen zu müssen. Ich konnte mich von beiden nicht richtig verabschieden. Sowohl ich, als auch meine Familie haben uns manchmal schwer getan. Doch seit dem Beginn meines Hungerstreiks hat meine Familie mich tatkräftig unterstützt. Alle Familienmitglieder haben mit ihren Mitteln meinen Protest unterstützt. Als meine Tochter hast du die größte Last zu tragen. Du bist an meiner Seite aufgewachsen. Zwischen uns liegen 17 Jahre. Ich habe nie daran gezweifelt, dass du meine Gefühle der Außenwelt richtig vermitteln wirst. Wenn es zum Frieden kommt, dann muss es ein umfassender Frieden sein. Wenn ich nur an meine eigenen Kinder denken würde, säße ich einfach in aller Ruhe zu Hause.
Während deines gesamten Widerstandes stand deine Identität als Frau stets im Vordergrund. Du hast sie auch während deiner Zeit als Bürgermeisterin oder Abgeordnete nie in den Hintergrund treten lassen. Wer an Leyla Güven denkt, dem kommt sofort eine starke Frau in den Sinn. Wie schaffst du es, eine derart starke Frau zu sein?
Woher nimmt man seine Kraft? Es ist nicht einfach in dieser Welt eine Frau zu sein. Ob Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, die Mirabal-Schwestern, Sakine Cansız, Leyla Şaylemez, Fidan Doğan oder tausende weitere Frauen – für sie alle war und ist es nicht einfach eine Frau zu sein. Es gibt ein indisches Sprichtwort, das besagt: „Der Pfeil ist immer auf die Frau gerichtet. Ebenso wie der Zeigefinger der Männer immer auf eine Frau gerichtet ist.“ Die Herrschenden haben immer zuerst die Frau zum Angriffsziel erklärt. Denn sie wissen, dass das Erwachen der Frauen die gesamte Gesellschaft erweckt. Ich bin eine Frau, eine Mutter, eine Politikerin. Wenn es mit gelingt, mir als Frau eine Bedeutung zu geben, wird es mir auch gelingen meinen anderen Identitäten Bedeutung zu verschaffen. Ich kann im Namen von Selma Irmak, Aysel Tuğluk, Gültan Kışanak, Sebahat Tuncel, Figen Yüksekdağ und allen anderen Frauen in den Gefängnissen sagen, dass wir auf Grundlage dieses Bewusstseins gehandelt haben und unser Dasein als Frauen ermöglicht haben. Wir sind Feministinnen, Kurdinnen, Türkinnen, Lazinnen oder Tscherkesinnen – doch uns alle bringt unsere Identität als Frauen zusammen. Wir sagen, dass es eines neuen Übereinkommens der Gesellschaft bedarf und diese Übereinkunft unter Leitung der Frauen geschehen muss.
Während viele denken, du stündest kurz vor dem Tod, erlebe ich dich heute als eine Person, die eine große Kraft ausstrahlt und bestrebt ist zu leben. Das berührt mich sehr. Wie gelingt dir das?
Natürlich möchte ich leben. Natürlich möchte ich, dass mein Protest erfolgreich verläuft und ich diesen Erfolg gemeinsam mit der Bevölkerung feiern kann. Ich sehne den Tag herbei, an dem die kurdische Frage auf demokratische Art und Weise gelöst und Herr Öcalan genau wie Nelson Mandela wieder zu seinem Volk zurückkehren kann. All das ist keine Utopie. Wir sind tief davon überzeugt, dass uns all das gelingen wird.
Mit welcher Botschaft möchtest du dich am Ende unseres Gespräches an die Öffentlichkeit wenden?
Es ist nicht so, dass ich im Gefängnis nicht traurig gewesen wäre, angesichts der Stille in der Türkei, insbesondere bestimmter Kreise. Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass die Totalisation Abdullah Öcalans nicht nur ein kurdisches Problem ist. All diejenigen, die das glauben, liegen falsch. Selahattin Demirtaş hat das gut auf den Punkt gebracht: Wir sitzen alle im selben Boot. Manch einer mag sich dessen noch immer nicht bewusst sein. Ich bin davon überzeugt, dass diejenigen, die uns heute alleine lassen, das morgen bereuen werden. Diese Prüfung erfordert von allen, klar Position zu beziehen. Dieser Kampf erfordert die Zusammenarbeit aller Menschen und Völker.
Im Original erschien das Interview am 03.02.2019 unter dem Titel „Herkesin safını belli eden bir sınav” in der Zeitung Yeni Yaşam Gazetesi. Übersetzung: Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.