Vor der 10. Kammer am Schwurgericht in Amed (türk. Diyarbakir) ist am Freitag der Prozess gegen die Parlamentsabgeordnete Saliha Aydeniz fortgesetzt worden. Der Politikerin, die zugleich Ko-Vorsitzende der DBP (Partei der demokratischen Regionen) ist, wird im Zusammenhang mit Aktivitäten für den legalen zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss KCD „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ vorgeworfen. Bei einer Verurteilung droht Aydemir eine Freiheitsstrafe zwischen siebeneinhalb und fünfzehn Jahren.
An dem mittlerweile achten Verhandlungstag nahm Aydemir nicht persönlich teil, sondern ließ sich von ihrer Verteidigerin Cemile Turhallı Balsak vertreten. Die Juristin forderte die Einstellung des Verfahrens mit Verweis auf die Abgeordnetenimmunität, das Gericht wies den Antrag allerdings ab. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass Aydemir die ihr zur Last gelegten Straftaten vor ihrer Wahl zur Abgeordneten begangen habe.
In der Anklageschrift gegen die 47-Jährige, die fast ausschließlich auf den Aussagen des anonym gehaltenen Zeugen „Sabır“ beruht, wird Aydeniz vorgeworfen, als „ständige Delegierte“ des KCD an Demonstrationen und Versammlungen der zivilgesellschaftlichen Organisation teilgenommen zu haben. Außerdem wird ihr die Behandlung und Pflege von „verletzten Mitgliedern der Terrororganisation“ angelastet. Aydeniz ist gelernte Krankenschwester und übte ihren Beruf zuletzt in Kerboran (Dargeçit) aus. Seit 1998 engagiert sie sich zudem für die Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen (SES). Im Zuge des vermeintlichen Putschversuchs vom Juli 2016 wurde sie durch das Erteilen eines Notstandsdekrets (KHK) während des Ausnahmezustands ohne juristische Grundlage aus dem öffentlichen Dienst entlassen.
Ihre Entlassung wird im Verfahren als Beweis gegen sie herangezogen. Aydemir wirkte aktiv bei der Etablierung des Gesundheitsrates des KCD mit, gegen den keine Verbotsverfügung vorliegt, dennoch von türkischen Gerichten als Terrororganisation gehandelt wird. Der Prozess gegen Aydemir wird am 26. März 2021 fortgesetzt.
Saliha Aydeniz im Polizeikessel bei einer Demonstration für Leyla Güven im Februar 2019 in Wan
Hintergrund: Was will die Regierung vom KCD?
Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.
Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen
Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.
Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess
Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Aktuell sieht die türkische Führung den KCD als sogenannten Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).