Die Frauenverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Jin, YPJ) führen seit ihrer Gründung im Jahr 2013 den Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) an. Auch im Kampf gegen die türkische Invasion und die Söldnertruppen des AKP/MHP-Regimes stehen die YPJ an der Spitze. Weltweit bekannt wurden sie mit dem Widerstand von Kobanê im Jahr 2015. Aus der ganzen Welt kamen Frauen nach Rojava, um sich dem Kampf anzuschließen. Eine der Kommandantinnen der YPJ ist Arzî Hesen. Anlässlich des bevorstehenden Frauenkampftags am 8. März sprach sie mit der Nachrichtenagentur ANHA über die Gründung und den Kampf der Frauenverteidigungseinheiten.
Erinnerung an die Opfer im Frauenfreiheitskampf
Hesen erinnert zunächst an die Bedeutung des 8. März: „Dieses Datum erinnert an das Massaker an Arbeiterinnen in einer Textilfabrik. Dem Kampf und der Opferbereitschaft von Frauen ist es zu verdanken, dass dieser Tag zum Weltfrauenkampftag ausgerufen wurde. Das dürfen wir niemals vergessen. Wir erinnern an diesem Tag an die Opfer, die Frauen in ihrem Freiheitskampf gebracht haben. Vor diesem Hintergrund nehmen wir den 8. März zum Anlass, die Schritte, die wir unternommen haben, zu bewerten, um im folgenden Jahr stärker und aufmerksamer zu sein. Das ist die Priorität der Frauenorganisationen und der YPJ.“
„Die in den Fabriken ausgebeuteten Frauen haben für Gleichberechtigung gekämpft“
Arzî Hesen erinnert an die Frauenkämpfe des 21. Jahrhunderts: „Die Kämpfe unterscheiden sich nach Zeit und Ort voneinander. Die Frauen versuchten, vor allem ihre Arbeit zu schützen. Damals haben die in den Fabriken mit Niedriglöhnen ausgebeuteten Frauen für Gleichberechtigung gekämpft. Wir können nicht sagen, dass sich diese Situation im 21. Jahrhundert geändert hätte. Vielen Frauen auf der Welt werden weiterhin ihre Rechte verweigert, sie können ihre Errungenschaften nicht schützen und leben in der Tyrannei.“
Frauenfeindlicher Rollback in Afghanistan
Hesen erinnert hierbei vor allem auch an die Frauen in Afghanistan: „Vor 20 Jahren wurde dort eine liberale Regierung gebildet, die den Weg für die Stärkung der Gesellschaft, für Bildung und Arbeit ebnete. Das wirkte sich auf die Forderungen der Frauen aus. Aber nachdem die Taliban die Kontrolle über das System übernommen hatten, griffen sie in das Recht der Frauen ein, sich zu kleiden, zu lernen und zu arbeiten. Das Ziel der Taliban ist es, die Uhr zurückzudrehen. In diesem Zusammenhang können wir sagen, dass all diese Entwicklungen im Einklang mit der Politik der staatlichen Systeme stehen.“
„Der Frauenkampf ist ein Kampf gegen Herrschaft“
Hesen kritisiert die staatlichen Systeme als Ausdruck des Patriarchats und fährt fort: „Wir betrachten den Frauenkampf als einen Kampf gegen Herrschaft. Die Staatsmacht kontrolliert die Frauen. Das wissen wir sehr genau und weiten in dieser Hinsicht unseren Kampf aus. Was wir damit sagen wollen: Die Regierung und der Staat dürfen nicht anstelle von Frauen entscheiden.“
„Frauen im Visier der Machtapparats“
Hesen führt weiter aus: „Die Verbindung zwischen Regierung und Gesellschaft ist sehr tiefgehend. Zum Beispiel bestehen enge Beziehungen zwischen den Machtapparaten Kapital und Militär. Zwischen diesen beiden Institutionen soll ein Gleichgewicht hergestellt werden. Aber selbst die kleinste Abweichung und die Gesellschaft insgesamt befindet sich im Visier. Innerhalb der Gesellschaft wird insbesondere auf die Frauen gezielt. Dafür müssen wir unsere Strategie auf dieser Grundlage umsetzen und die Kraft haben, die Herrschenden zur Akzeptanz von Frauen zu zwingen.“
„Die eigentliche Kraft der Frauen ist ihre Organisierung“
Hesen sieht in der Organisierung die eigentliche Stärke von Frauen und betont, dass die YPJ gegen Männerherrschaft und staatliche Systeme gegründet wurde: „Wenn Frauen keine Bildung, keine militärische Kraft, keine eigenen Ideen und Ziele haben, dann erlaubt dies dem Staat und den Männern, ihr Schicksal zu kontrollieren. Wenn sich Frauen selbst verteidigen, kann der Staat sie nicht kontrollieren und damit gerät die gesamte Systembalance ins Wanken. Gleichzeitig wird dem Machtapparat eine Grenze gesetzt. Die Frauen müssen von diesem Grundsatz überzeugt sein. Wir müssen alle Frauen warnen und ein Bewusstsein schaffen. Unser Ziel ist es, eine Kraft wie die YPJ zu schaffen, die ein Beispiel für den Widerstand für Frauen auf der ganzen Welt ist, und sie unter allen Frauen auf der Welt zu verbreiten.“
Hesen sieht eine enge Verbindung zwischen Kapitalismus und Patriarchat, betont aber, dass noch vor der ökonomischen Kraft von Frauen die Verteidigung der Gesellschaft und von ethisch-moralischen Werten die Rede sein müsse: „Wir müssen diesem Thema mehr Aufmerksamkeit schenken. Die Frau, die sich von der Kultur ihrer Gesellschaft entfernt, entfernt sich von der Krise innerhalb der Gesellschaft und kann die Gesellschaft nicht schützen. Dieses Thema sollte immer intensiv diskutiert werden. Zum Beispiel: Was ist der Grund für die Zunahme von Scheidungen in den letzten zehn Jahren im Nahen Osten und insbesondere in Syrien? Wenn wir uns nur allein mit diesem Thema befassen, können wir die Zerstörung sehen, die durch die liberale kapitalistische Ideologie des Regimes verursacht wurde.“ Sie zieht eine Verbindung zur ökonomischen Situation und sagt: „Die kapitalistischen Kräfte wissen sehr wohl, dass Menschen, die ökonomisch leiden, auf Methoden wie Diebstahl oder den Verkauf von Kindern zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wir haben das auf gesellschaftlichem Level gesehen. Dies ist eine Methode der Zerstörung der Gesellschaft, bei der die Frauen zerstört werden sollen.“
Insbesondere Embargos seien ein Mittel, um die Region zu destabilisieren: „Sie [die kapitalistischen Mächte] wollten Chaos in unseren Regionen schaffen und haben Embargos verhängt, um die Menschen auszuhungern. Das kapitalistische System tut all dies, um den gesellschaftlichen Widerstand zu brechen. Das richtet sich insbesondere gegen die Frauen. Zum Beispiel, wenn ein Mann seine Ehefrau bestrafen will, dann schneidet er sie von ihrem Einkommen ab. Die Methode der ökonomischen Kriegführung wird benutzt, um die Menschen von ihrer Kultur und Selbstbestimmung abzubringen und zur Aufgabe zu zwingen. Das kapitalistische System benutzt diese Methode und der Staat benutzt die gleiche Methode. Die Suche nach Selbstversorgung ist ein möglicher Ausweg. Jede Frau sollte darüber bei der Deckung ihres Bedarfs und ihrer Wünsche nachdenken.“
„Die Existenz der YPJ brachte den Unterschied der in der Region kämpfenden Kräfte hervor“
Zur Rolle der YPJ sagt Hesen: „Die Existenz der YPJ hat den Unterschied zwischen den in der Region kämpfenden Kräften ans Licht gebracht. Die ganze Welt und insbesondere die Frauen blickten auf sie. Die YPJ eröffnete mit ihrer Gründung vielen Frauen aus der ganzen Welt die Möglichkeit, sie kennen zu lernen. Es entstand ein Geist des Zusammenlebens und die Furcht verschwand.“
„Die Frauen brauchen ein System der weltweiten Zusammenarbeit“
Hesen betont die Notwendigkeit des gemeinsamen und koordinierten Kampfes der Frauen auf der ganzen Welt. Gleichzeitig sei aber auch ein an die Bedürfnisse der Frauen in den jeweiligen Regionen angepasster Kampf notwendig. Es gehe um den Aufbau eines Systems, in dem die Frauen lernen, ihre Rechte zu verteidigen und Druck auf Staaten aufzubauen. Dazu sei die Eröffnung eines speziellen Frauenzentrums nötig. Außerdem bedürfe es einer Organisation, in der der Frauenkampf diskutiert werde und die die entsprechende Entscheidung zur Verteidigung der Rechte von Frauen treffe. Auf Nordsyrien bezogen unterstreicht die Kommandantin, dass die kurdischen, arabischen und assyrischen Frauen noch stärker zusammenarbeiten müssen und noch ein großer Kampf notwendig sei, um die Mentalität zu verändern.
„Şehîd Hêlîn Qereçox war die Stimme der Gerechtigkeit“
Hesen schließt mit ihrem Gedenken an die am 15. März 2018 in Efrîn gefallene Internationalistin Hêlîn Qereçox (Anne Campbell): „Şehîd Hêlîn war die Stimme der Gerechtigkeit, des Gewissens und der Gleichberechtigung. Die Genossin Hêlîn hatte sich gegen einen zur Vernichtung der Kurd:innen entschlossenen Staat erhoben. Şehîd Hêlîn ist das Gewissen des englischen Volkes und eines der Beispiele für diejenigen, die an der Seite des kurdischen Volkes stehen. Sie ist die Vorreiterin aller Frauen. Anlässlich des 8. März gedenken wir all unserer Gefallenen."