Schwarzer Tag für die freie Anwaltschaft
Die türkische Justiz hat den Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer abgesetzt. Ein Gericht in Istanbul befand am Freitag, dass alle elf Mitglieder des Verbandsvorstands „Terrorpropaganda“ betrieben sowie irreführende Informationen verbreitet hätten und damit ein Verstoß gegen das Gesetz Nr. 1136 über die Zuständigkeiten und Aufgaben der Anwaltskammer vorliegen würde. Sie seien somit nicht geeignet und nicht in der Lage, ihr Amt ordnungsgemäß auszuführen, hieß es. Alle Vorstandsmitglieder, einschließlich Kammerpräsident Prof. Dr. Ibrahim Kaboğlu, wurden mit sofortiger Wirkung abgesetzt.
Grund des Verfahrens: Verurteilung eines mutmaßlichen Kriegsverbrechens
Hintergrund des Amtsenthebungsverfahrens gegen die Istanbuler Rechtsanwaltskammer ist deren Forderung nach einer Untersuchung der Ermordung von Nazım Daştan und Cihan Bilgin. Die beiden kurdischen Journalist:innen waren am 19. Dezember durch einen gezielten türkischen Drohnenangriff in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien getötet worden. Die Kammer hatte daraufhin erklärt, dass es mutmaßlich um einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht handelt und die Ermordung der Journalist:innen ein Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8 des Römischen Statuts darstellen könnte. Sie fordert eine unparteiische Untersuchung und eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen.
Vorwurf der „PKK-nahen Rhetorik“
Wegen dieses Aufrufs hatte die Staatsanwaltschaft kurz vor Weihnachten im Eiltempo ein Amtsenthebungsverfahren gegen den gesamten Kammervorstand eingeleitet, dessen Auftakt Anfang März war. Die Behörde stützt sich bei ihren Vorwürfen darauf, dass Daştan und Bilgin Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gewesen seien und die Forderung der anwaltlichen Selbstverwaltungsorganisation als Unterstützung zu bewerten sei. Die Erklärung der Anwaltskammer nach dem Tod der beiden Journalist:innen wurde von der Justiz als „politische Stellungnahme mit PKK-naher Rhetorik“ gewertet.
„Staatsanwaltschaft agiert, als sei sie keiner Kontrolle unterworfen“
Bei der heutigen zweiten Hauptverhandlung verteidigten sich Kaboğlu und alle weiteren Angeklagten gegen die Vorwürfe. Der kurdische Rechtsanwalt Fırat Epözdemir, Vorstandsmitglied der Kammer, der wegen eines anderen Verfahrens unter vermeintlichen Terrorvorwürfen im Marmara-Gefängnis inhaftiert ist, nahm per Videoschaltung teil. Die Verhandlung wurde von zahlreichen nationalen und internationalen Beobachter:innen verfolgt, darunter Vertreter:innen von Anwaltsvereinigungen, Gewerkschaften und politischen Parteien. Der Präsident der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei (TBB), Erinç Sağkan, kritisierte scharf das Vorgehen der Staatsanwaltschaft: „Die Istanbuler Staatsanwaltschaft agiert, als wäre sie keiner Kontrolle unterworfen. Selbst grundlegende Rechte wie das Recht auf Schutz vor Rufschädigung werden ignoriert.“
„Recht auf ein faires Verfahren wird verletzt“
Kaboğlu selbst äußerte sich kämpferisch: „Ein solches Urteil wird spätestens vor dem Berufungsgericht, dem Verfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgehoben werden.“ Er warf dem Gericht vor, Anträge unbegründet abzulehnen und damit gegen die Verfassung und grundlegende Menschenrechte zu verstoßen. „Sogar im Kriegszustand ist das Recht auf ein faires Verfahren unantastbar.“
Auch der inhaftierte Fırat Epözdemir meldete sich zu Wort und wies die Vorwürfe entschieden zurück: „In der Anklage gibt es nur Verweise auf die Ermittlungsakten zu den getöteten Journalist:innen. Eine Feststellung illegaler Aktivitäten ist Aufgabe eines Strafgerichts, nicht dieser Instanz.“
„Wir bestehen auf die Sprache des Rechts“
Der renommierte Anwalt und ehemalige Präsident der Istanbuler Anwaltskammer, Turgut Kazan, kritisierte ein „Klima der Einschüchterung“: „Im Justizsystem herrscht heute eine Sprache der Kontrolle, Angst und Zwangsverwaltung. Doch wir Anwält:innen werden weiterhin die Sprache des Rechts sprechen – auch wenn die Justiz selbst nicht einmal mehr Urteile des Verfassungsgerichts umsetzt.“
Nach einer intensiven Debatte verkündete das Gericht schließlich seine Entscheidung: Der Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer wird mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben. Die Absetzung sorgt in juristischen und politischen Kreisen für breite Empörung – viele sehen darin einen weiteren Schritt zur Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz und der rechtsstaatlichen Ordnung in der Türkei.
Eine außerordentliche Generalversammlung der Kammer hatte erst im Februar das Vertrauen in den Vorstand bekräftigt und diesen entlastet. Die juristische Auseinandersetzung dürfte damit jedoch noch lange nicht beendet sein. Die Betroffenen kündigten an, den Rechtsweg weiter auszuschöpfen – notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Kaboğlu: Schwarzer Tag für die Anwaltschaft
Prof. Dr. Ibrahim Kaboğlu sprach nach der Urteilsverkündung von einem „schwarzen Tag“ für die freie Advokatur. „Auf keine einzige meiner Fragen konnte der doch recht junge Staatsanwalt eine Antwort liefern. Der Richter wies alle unsere berechtigten Anträge und Forderungen unbegründet zurück. In einem Umfeld, in dem das Recht auf ein faires Verfahren nicht gewährleistet war, gab es für uns keinen Grund, im Gerichtssaal zu bleiben, deshalb verließen wir den Gerichtssaal. Doch wenn sie glauben, dass sich die 200.000 Anwält:innen in diesem Land zum Schweigen bringen lassen, irren sie sich gewaltig“, sagte Kaboğlu mit Blick auf die Regierung.