Operation gegen freie Anwaltschaft
In der Türkei hat das Amtsenthebungsverfahren gegen den Vorstand der Rechtsanwaltskammer Istanbul begonnen. Das Verfahren wurde aufgrund von Forderungen des Präsidenten der Anwaltskammer, Ibrahim Kaboğlu, und den zehn übrigen Vorstandsmitgliedern nach einer unparteiischen Untersuchung der Todesfälle von zwei kurdischen Journalist:innen und der Achtung des internationalen humanitären Rechts von den türkischen Behörden auf Grundlage von Vorwürfen wie „Terrorpropaganda“ und „Verbreitung irreführender Informationen“ eingeleitet. Die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul beschuldigt die Leitung der Anwaltskammer, „zweckfremde Tätigkeiten“ durchgeführt zu haben, weil sie die Tötung von Nazım Daştan und Cihan Bilgin als mögliches Kriegsverbrechen untersucht haben will. Die beiden Journalist:innen waren im Dezember bei einem gezielten Drohnenangriff des türkischen Staates in Nordsyrien ermordet worden.
Debatte über Verfassungsmäßigkeit des Verfahrens
Der von Politiker:innen der Oppositionsparteien DEM und CHP sowie Mitgliedern von Anwaltskammern aus Frankreich, Italien, der Schweiz und den Niederlanden beobachtete Prozess startete am Dienstag nach anfänglichen Tumulten am Justizpalast Istanbul – der ursprünglich vorgesehene Gerichtssaal bot nicht allen Platz – mit einer Debatte darüber, ob ein solches Verfahren überhaupt zulässig ist. Der 1950 geborene Verfassungsrechtler und Kammerpräsident Ibrahim Kaboğlu argumentierte, das Amtsenthebungsverfahren sei allein schon deshalb verfassungswidrig, weil es nicht vor einem Verwaltungsgericht, sondern an einer Kammer für schwere Straftaten verhandelt wird.
Viele Zuschauer:innen verfolgten den Prozess in den Korridoren des Gerichts
Rolle der Anwaltskammern beim Schutz von Freiheiten
„Die Anwaltskammern haben die Aufgabe, für Gerechtigkeit zu sorgen. Sie sind die Hüter des Rechtsstaats. Für sie gelten die Regeln des öffentlichen Rechts. Dieses Verfahren verstößt in eklatanter Weise gegen die Verfassung und bedroht die gesamte Anwaltschaft. Es muss ausgesetzt und zur verfassungsrechtlichen Überprüfung an das Verfassungsgericht weitergeleitet werden“, betonte Kaboğlu. Er hob zudem die essenzielle Rolle der Anwaltskammern beim Schutz verfassungsmäßiger Freiheiten hervor. Ihr Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte sei weitreichender als bei anderen Berufsverbänden.
Freie Advokatur in Gefahr
„Die Existenz der Anwaltskammern basiert auf den Prinzipien von Gerechtigkeit, Demokratie und Rechtsstaat. Das gegen uns eingeleitete Verfahren ist nichts anderes als eine Reaktion darauf, dass wir auf dem Recht bestehen und es einfordern. Wenn eine Klage gegen die Istanbuler Anwaltskammer möglich ist, dann bedeutet das, dass sich dieses Verfahren gegen alle 81 Anwaltskammern sowie gegen die Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei richtet. Deshalb muss das Gericht alle Anwaltskammern als Nebenkläger zulassen.“
Kazan: „Die Anwaltschaft soll zum Schweigen gebracht werden“
Im Anschluss sprach der ehemalige Präsident der Istanbuler Anwaltskammer, Turgut Kazan. Auch er kritisierte die Verfassungswidrigkeit des Verfahrens und warnte davor, dass die Anwaltskammer zum Schweigen gebracht werden solle. „Wenn die Anwaltskammer mit solchen Methoden mundtot gemacht wird, bedeutet das das Ende des Rechts auf Verteidigung und ein faires Verfahren in der Türkei“, erklärte Kazan. Er empörte sich darüber, dass die Anklage die Forderung nach einer Untersuchung eines mutmaßlichen Kriegsverbrechens als „moralische Unterstützung für eine Terrororganisation“ als „unzulässige Tätigkeit“ auslege.
Anwält:innen lauschen der Rede des Kammerpräsidenten nach der Verhandlung
„Die Vergangenheit wiederholt sich“
„Ich habe viele schmerzliche Erfahrungen gemacht – ich habe vor Kriegsgerichten gestanden, vor den Staatssicherheitsgerichten verteidigt“, sagte Kazan. „Ich habe die Justiz unter FETÖ erlebt. Sie war erbarmungslos. Ich möchte nicht, dass wir solche Zeiten noch einmal durchleben. Doch heute sehe ich, dass die Situation noch ernster ist. Dieses Verfahren muss vor das Verfassungsgericht gebracht werden. Sollte die Anwaltskammer verurteilt werden, verlieren alle meine Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit, ihren Beruf mit der notwendigen Sicherheit auszuüben“, so der Jurist.
Sağkan: „Die Vorboten eines Angriffs auf uns alle“
Nach Kazan sprach der Präsident der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei (TBB) Erinç Sağkan. Er stellte klar, dass die Forderung der Anwaltskammer im Einklang mit ihrem Auftrag stehe. „Niemand kann der Anwaltskammer vorwerfen, sie würde ‚zweckfremde Tätigkeiten‘ ausüben, wenn sie in ihrem Zuständigkeitsbereich handelt“, fügte Sağkan hinzu. „Wir sind hier, weil wir befürchten, dass dies die Vorboten eines umfassenden Angriffs auf uns alle sind. Die Anwaltskammern stehen geschlossen hinter dieser Sorge. In jeder Epoche der Türkei stand die Justiz unter Druck. In solchen Zeiten kommt Berufsverbänden eine entscheidende Rolle zu. Wenn alle anderen schweigen, muss es zumindest einige geben, die die Wahrheit aussprechen.“
Gericht lehnt nahezu alle Anträge ab
Das Gericht lehnte den Antrag der Verteidigung ab, das Verfahren wegen Verfassungswidrigkeit der Anklage dem Verfassungsgericht vorzulegen. Auch die Anträge von rund 40 Anwaltskammern, als Nebenkläger in das Verfahren einbezogen zu werden, wurden abgewiesen. Lediglich die TBB wurde als Nebenklägerin zugelassen. Zudem wurde angeordnet, dass der kurdische Rechtsanwalt Fırat Epözdemir, der zum Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer gehört und Ende Januar nach einer Reise zum Europarat unter vermeintlichen Terrorvorwürfen verhaftet wurde, über ein Videokonferenzsystem in die Verhandlung eingebunden wird. Sein Antrag auf eine virtuelle Teilnahme an der gestrigen Sitzung war zuvor abgelehnt worden, obwohl er Verfahrensbeteiligter ist. Die nächste Anhörung findet am 21. März statt.
Kaboğlu: „Eine politische Operation“
Nach dem Verfahrensauftakt hielt Ibrahim Kaboğlu eine Rede vor dem Justizpalast: „Als Jurist:innen, die sich für eine laizistische und demokratische Republik einsetzen, müssen wir unser tiefes Unbehagen über diese Verhandlung zum Ausdruck bringen. Dass das Verfahren ohne ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts, ohne die Anhörung von Fırat Epözdemir und ohne seine Verteidigung mit einem Zwischenurteil abgeschlossen wurde, ist ein besorgniserregender Vorgang, über den wir alle nachdenken sollten.
Von der Veröffentlichung der Anklageschrift an wurden grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien durchgehend missachtet. Trotz der Einwände gegen die unzureichende Größe des Gerichtssaals wurden diese ignoriert. All das sind eindeutige Hinweise darauf, dass es sich bei der gegen die Istanbuler Anwaltskammer gerichteten Maßnahme um eine politische Operation handelt.
Ich möchte mich bei allen regionalen Anwaltskammern für ihre Unterstützung bedanken. Ebenso danke ich für die Anträge auf Nebenklage. Diese gemeinsame Auseinandersetzung ist von großer Bedeutung. Ich betone erneut, dass Anwaltskammern den Status öffentlich-rechtlicher Institutionen haben und ihre organisatorische Struktur bewahrt werden muss. Ich hoffe, dass die bei dieser Verhandlung begangenen Rechtsverstöße in der nächsten Sitzung am 21. März nicht wiederholt werden.“