Terror-Ermittlungen gegen Istanbuler Anwaltskammer

Gegen die Anwaltskammer Istanbul wird wegen „Terrorismus“ ermittelt. Grund ist die Forderung der Organisation nach einer Untersuchung der Tötung von zwei kurdischen Journalist:innen, die in Rojava von einer türkischen Drohne ermordet wurden.

Forderung nach Untersuchung von Kriegsverbrechen

Die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul hat ein Ermittlungsverfahren gegen die Istanbuler Rechtsanwaltskammer eingeleitet. Sie erhebt den Verdacht der „Propaganda für eine Terrororganisation“ und bezichtigt die Organisation der Verbreitung von falschen oder irreführenden Informationen, wie die oberste Anklagebehörde der Provinz am Bosporus am Sonntag mitteilte. Das Verfahren betrifft den gesamten elfköpfigen Vorstand der Kammer, darunter auch den Vorsitzenden Ibrahim Kaboğlu.

Hintergrund der Ermittlungen ist die Forderung der Rechtsanwaltskammer nach einer Untersuchung der Ermordung von Nazım Daştan und Cihan Bilgin. Die beiden kurdischen Journalist:innen, die die türkische Staatsbürgerschaft besaßen, waren am vergangenen Donnerstag durch einen Drohnenangriff des türkischen Staates in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien getötet worden. Die Kammer erklärte daraufhin in einer am Vortag veröffentlichten Mitteilung, dass es sich hierbei mutmaßlich um einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht handelt und die Ermordung der Journalist:innen ein Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8 des Römischen Statuts darstellen könnte. Sie forderte eine unparteiische Untersuchung und eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen.

Darüber hinaus prangerte die Anwaltskammer an, dass mehrere ihrer Mitglieder bei einer gestern in Istanbul abgehaltenen Kundgebung gegen die Tötung von Nazım Daştan und Cihan Bilgin festgenommen wurden. Die Festnahmen seien inakzeptabel und rechtswidrig, hieß es. Die Reaktion der Generalstaatsanwaltschaft ließ nicht lange auf sich warten. Noch am Sonntag leitete die Behörde von Amts wegen eine Untersuchung ein. In der Mitteilung heißt es, der Anwaltskammer werde vorgeworfen, die „flüchtigen PKK-Mitglieder“ Nazım Daştan und Cihan Bilgin „gelobt“ und die falsche Information verbreitet zu haben, sie wären Journalisten gewesen und seien während oder wegen der Ausübung einer journalistischen Tätigkeit getötet worden. Daraus ergebe sich, dass die Anwaltskammer den türkischen Staat „unbegründeterweise“ eines Kriegsverbrechens beschuldigt.

Der AKP ist die Istanbuler Anwaltskammer seit langem ein Dorn im Auge. Sie thematisiert immer wieder heikle Fragen wie Gewalt gegen Frauen, Folter und Misshandlung durch die Polizei, Korruption und sexuellen Missbrauch. 2020 verabschiedete das Parlament mit den Stimmen der islamistisch-rechtsextremen AKP/MHP-Koalitionsallianz eine umstrittene Gesetzesänderung zur Neuorganisation der Anwaltskammern. Das Gesetz lässt alternative Vereinigungen zu, die Mitglied im Dachverband der auf Provinzebene organisierten Anwaltskammern der Türkei (TBB) werden können. Damit kann das Stimmengewicht der größten Kammern wie etwa in Istanbul, Izmir und Ankara, die zu den unbequemen Kritikern Erdoğans zählen, geschwächt werden; die Anwaltskammern geraten so unter staatlicher Kontrolle. Das wollte das Regime bei der letzten Vorstandswahl im Oktober auch in Istanbul erreichen. Mit den Stimmen vieler Mitglieder, die in den pro-kurdischen und linken Anwaltsvereinigungen ÖHD und ÇHD organisiert sind – beide Organisationen verzichteten auf eigene Kandidierende – wurde Ibrahim Kaboğlu zum Präsidenten der Kammer. Der Jurist gilt als Sozialist und setzt sich für eine Lösung der kurdischen Frage und andere Minderheitenfragen in der Türkei ein. | Foto: Ibrahim Kaboğlu nach der gewonnenen Wahl zum Kammerpräsidenten © Evrensel


Besonderer Schutz für Journalist:innen

Pressevertreter:innen müssen nach internationalem Recht besonders geschützt sein. Ihre Rolle während eines bewaffneten Konflikts ist besonders wichtig, um den Verlauf der Feindseligkeiten zu überwachen und mögliche Verstöße aufzuzeigen. Unabhängig davon, für welche Medienhäuser sie arbeiten, ist ein vorsätzlicher Angriff auf Journalist:innen ein Kriegsverbrechen.

Deutlich als Pressevertreter:innen erkennbar

Journalist:innen in Krisengebieten gelten nach Artikel 79 des Ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konvention als Zivilpersonen, sofern sie sich nicht in einer Weise verhalten, die zur Aberkennung dieses Status führt, wie etwa: direkte Unterstützung von Kriegshandlungen, Tragen von Waffen oder Spionage. Nach dem humanitären Völkerrecht sind Konfliktparteien eindeutig verpflichtet, Zivilpersonen zu schützen, und müssen jederzeit zwischen Zivilpersonen und zivilen Objekten einerseits und Kämpfer:innen und militärischen Zielen andererseits unterscheiden. Im Fall von Nazım Daştan und Cihan Bilgin steht auch in Nord- und Ostsyrien der Vorwurf eines Kriegsverbrechens im Raum. Sie selbst und ihr Fahrzeug, das von der Drohne erfasst worden war, waren deutlich als Journalist:innen beziehungsweise Presse erkennbar gewesen; die türkische Armee wusste oder hätte wissen müssen, dass es sich um Zivilpersonen handelte.