Die im Frauengefängnis Sincan inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) hat eine kurze Botschaft zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai in der Türkei abgegeben. In der über ihre Anwält:innen nach außen getragenen Erklärung betont die Politikerin die historische Bedeutung der Wahlen und unterstreicht die Verantwortung der Einzelnen für eine erfolgreiche Abwahl des AKP/MHP-Regimes.
Die Botschaft von Tuncel lautet wie folgt: „Seid gegrüßt, natürlich ist jede Wahl wichtig, aber diese Wahl ist von entscheidender Bedeutung für die Politik der Türkei und alle sollten in diesem Bewusstsein handeln. Besonders wir Sozialist:innen ... In diesem Prozess ist es wichtig, als ‚wir‘ zu agieren, nicht als ‚ich‘. Wir dürfen nicht polarisieren, sondern müssen vereinen. Es ist eine historische Verantwortung für uns alle, ein freiheitliches und egalitäres Selbstverständnis gegen die sexistische, nationalistische, religiös-fundamentalistische Haltung zu organisieren.“
Angesichts der Diskussionen um Einzelkandidaturen von Parteien auf der Liste für Arbeit und Freiheit, der die Demokratische Partei der Völker (HDP) und die Grüne Linkspartei (YSP) angehören, erklärt Tuncel: „Beenden wir die Debatte. 40 Tage vor den Wahlen ist es notwendig, die Diskussionen zu beenden und zu handeln. Wir sind die HDP, wir sind die Grüne Linkspartei, wir sind die EMEP, wir sind die TIP! Wir werden das Leben aufbauen ... Ich wünsche dem Bündnis für Arbeit und Freiheit erneut Erfolg. Ich bin davon überzeugt, dass wir gewinnen werden! Jin, Jiyan, Azadî!“
Debatte um Kandidatur
Sebahat Tuncel spielt hier auf die Debatte innerhalb des Bündnisses für Arbeit und Freiheit an, ob Parteien wie die Partei der Arbeit (EMEP) und die Arbeiterpartei TIP auch eigenständig, jenseits des Bündnisses für Arbeit und Freiheit antreten können. Die Demokratische Partei der Völker (HDP), die Partei der Grünen Linken (YSP), die Arbeiterpartei der Türkei (TIP), die Partei der Arbeit (EMEP), die Partei der sozialen Freiheit (TÖP), die Partei der Arbeitsbewegung (EHP) und der Bund der Sozialistischen Räte (SMF), die dem Bündnis angehören, haben am 24. März einen Konsens erzielt. Während HDP, TÖP, EHP und SMF beschlossen, auf der Liste der Grünen Linkspartei anzutreten, wollten TIP und EMEP mit ihren eigenen Logos in die Wahl gehen. Die EMEP hat diesen Beschluss jedoch vor kurzem revidiert, weil die Aufteilung aufgrund des bestehenden Wahlsystems zum Verlust von Abgeordnetensitzen führen würde.
Wer ist Sebahat Tuncel?
Die Politikerin, Feministin und ehemalige Krankenschwester Sebahat Tuncel wurde 1975 in der nordkurdischen Provinz Meletî geboren. Sie hat ihr ganzes Leben dem Kampf für Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung gewidmet und bekam immer wieder Repression des türkischen Staates zu spüren. Sie war 2005 eines der Gründungsmitglieder der Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP). Ihre Partei wurde am 11. Dezember 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten. Im Jahr 2006 wurde sie unter dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft angeklagt und inhaftiert.
Aufgrund der Zehn-Prozent-Hürde im türkischen Wahlsystem trat die DTP bei den Parlamentswahlen 2007 mit unabhängigen Kandidat:innen an. Tuncel konnte im dritten Wahlbezirk der Provinz Istanbul 93.000 Stimmen auf sich vereinen und wurde aus der Haft ins Parlament gewählt. Im Juli 2007 musste die Abgeordnete daher aus dem Gefängnis entlassen werden.
Nach dem Verbot der DTP trat Tuncel der Nachfolgepartei für Frieden und Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) bei. Für die Parlamentswahlen im Juni 2011 kandidierte sie in Istanbul und wurde wiedergewählt. 2014 wurde die BDP auf dem dritten Parteikongress umbenannt. So entstand die heutige Partei der demokratischen Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP), deren Ko-Vorsitzende Sebahat Tuncel war. Anders als zuvor die BDP konzentrierte sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Das erklärte Ziel der DBP ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei.
Die Politikerin wurde im Oktober 2016 im Rahmen des sogenannten Kobanê-Verfahrens inhaftiert. Angeklagt im sogenannten Kobanê-Verfahren von Ankara sind 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden, da sie zum Protest gegen die Angriffe auf Kobanê aufgerufen hatten. Die Proteste wurden massiv von den Sicherheitskräften und islamistischen Gruppen wie der türkischen Hizbullah angegriffen. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um HDP-Anhänger:innen handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Allein für den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft bis zu 15.000 utopische Jahre Gefängnis.
Sebahat Tuncel wurde im Februar 2019 unter Terrorismusvorwürfen zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Revisionsgericht hob das Urteil wegen Formfehlern auf. Hinzu kommen bei der inhaftierten Freiheitsaktivistin viele weitere Verfahren und Urteile. So wurde sie im September 2020 zu einem Jahr Haft verurteilt, weil sie den türkischen Regimechef als „Frauen- und Kurdenfeind“ bezeichnet hatte. Die kurdische Politikerin befindet sich weiterhin Gefängniskomplex Sincan bei Ankara.