Prozessauftakt gegen den Mörder von Deniz Poyraz

In Izmir hat der Prozess gegen den türkischen Faschisten Onur Gencer begonnen, der vergangenen Juni bei einem bewaffneten Anschlag auf den HDP-Verband die Kurdin Deniz Poyraz ermordet hat. Im Gericht kam es tumultartigen Szenen.

In Izmir hat der Prozess gegen den Mörder von Deniz Poyraz begonnen. Die kurdische Aktivistin ist im Juni in der HDP-Zentrale der westtürkischen Metropole von dem türkischen Faschisten Onur Gencer erschossen worden. Die Anklage wirft ihm Mord mit dem Tatbestandsmerkmal der Heimtücke, Hausfriedensbruch und Beschädigung von Eigentum einer politischen Partei vor und fordert erschwerte lebenslange Haft plus weitere sieben Jahre Gefängnis. Der Prozess wird an der 6. Großen Strafkammer zu Izmir verhandelt.

Die Gerichtsverhandlung wird von zahlreichen Politiker:innen, Aktivist:innen und Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen beobachtet, darunter auch die dänischen Parlamentarier Lars Aslan Rasmussen und Soren Sondergaard sowie die Vorsitzenden der Anwaltskammern aus 29 Provinzen der Türkei. Über 500 Anwält:innen kamen zum Gerichtsgebäude, nur ein kleiner Teil wurde in den Verhandlungssaal gelassen. Aufgrund des hohen Andrangs kam es zu tumultartigen Szenen. Der Angeklagte wird von zwei Militärpolizisten bewacht, die freundlich mit dem 27-jährigen Anhänger der rechtsextremen Organisation „Graue Wölfe“ scherzen. Bereits bei seiner Festnahme unmittelbar nach dem Anschlag war der freundliche Umgang der Polizei mit dem Täter aufgefallen.

Die HDP-Vorsitzende Pervin Buldan beim Prozessauftakt im überfüllten Gerichtssaal

Vor Verhandlungsbeginn gaben Politiker:innen der HDP, DBP, CHP, TIP, SYKP, DP sowie Aktivist:innen von Frauenorganisationen eine Erklärung vor dem Gerichtsgebäude ab. Die HDP-Vorsitzende Pervin Buldan sagte, dass die auf Deniz Poyraz abgefeuerten Kugeln der Hoffnung auf Frieden und Demokratie in der Türkei gegolten haben. „Heute wird gegen einen Mörder verhandelt, aber die hinter dem Anschlag stehenden Kräfte, die Auftraggeber und diejenigen, die ihn dazu gebracht haben, den Abzug zu drücken, sind immer noch nicht aufgeklärt worden“, so Pervin Buldan. Ziel des Anschlags sei es gewesen, Chaos anzurichten. Das sei von den Völkern der Türkei abgewendet worden, Millionen Menschen hätten sich nach dem Mord an Deniz Poyraz hinter die HDP gestellt. „Wir wissen, dass die Hassrede der Regierung und die alltägliche Ausweisung der HDP als Angriffsziel zu dem Mord an Deniz geführt hat. Die Atmosphäre an jenem Tag kann nicht unabhängig von dem Sprachgebrauch der Regierung betrachtet werden. Solange die Täter des Massakers von Roboskî und der Anschläge von Ankara und Suruç [ku. Pirsûs] nicht bestraft und die Hintermänner des Mordes an Deniz nicht aufgeklärt werden, wird es weitere Morde in diesem Land geben. Erst gestern hat ein ähnlicher Angriff auf den Bezirksverband der HDP in Istanbul-Bahçelievler stattgefunden, der glücklicherweise gescheitert ist.“

Die HDP-Vorsitzende wies darauf hin, dass Onur Gencer vor dem Mord bei den türkischen Besatzungstruppen in Nordsyrien eine militärische Ausbildung absolviert hat und auch sieben Monate nach der Tat nicht aufgeklärt worden ist, wer in die Planung und Vorbereitung involviert war. Diese offenen Fragen gelte es im Prozess zu beantworten. „Die Mörder von Deniz und ihre Hintermänner werden gegenüber diesem Land, den Frauen und unserer Partei Rechenschaft ablegen müssen. Wir werden unseren Kampf für Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie niemals aufgeben“, erklärte Buldan.

Der Mord an Deniz Poyraz

Deniz Poyraz ist am 17. Juni in der HDP-Zentrale im Bezirk Konak mit sechs Kugeln erschossen worden. An dem Tag sollte in dem Gebäude eine Vorstandssitzung mit etwa vierzig Personen stattfinden, die kurzfristig verschoben worden war. Die HDP sprach daher von einem Massaker, das dort hätte stattfinden sollen. Eine auf Video festgehaltene Tatortbegehung unmittelbar nach dem Mord zeigte, dass nicht nur ein bis zwei gezielte Schüsse abgegeben wurden. Die Schäden in den Räumlichkeiten deuteten auf einen Dauerbeschuss hin, mit dem alle Anwesenden hätten getötet werden sollen. Allein die verschlossene Tür des Büros des Vorstands hatte Onur Gencer durch mehrere Schüsse auf das Schloss entriegelt. Nach der Bluttat veröffentlichte er via WhatsApp ein Foto der getöteten Deniz Poyraz mit dem Zusatz: „Leiche 1“. Dies deutet darauf hin, dass Gencer eine größere Zielgruppe im Visier hatte. Seine Behandlung durch die Polizei spricht ebenfalls für eine organisierte Tat. Gencer war bei seiner Festnahme am Tatort äußerst höflich von Beamten aus dem Gebäude eskortiert und mit „Bruder“ angesprochen worden. Wieso er trotz massiver Polizeipräsenz am Eingang schwerbewaffnet in das rund um die Uhr von der Polizei überwachte Gebäude eindringen konnte, muss in dem Prozess aufgeklärt werden.

Auswertungen der Handydaten von Onur Gencer lassen nach Auffassung des Rechtsbeistands von Hinterbliebenen der getöteten Deniz Poyraz den Schluss zu, dass der Mann nicht allein handelte und die Tat vielmehr auf das Konto einer organisierten Struktur geht. Obwohl der Mordplan bis ins Detail ausgefeilt war – 115 Mal habe er sich innerhalb eines Jahres in der näheren Umgebung der HDP-Zentrale zur Erkundungstour aufgehalten, 24 Mal war er im Gebäude, zwei Mal ging er kurz vor dem Anschlag auf einem Schießstand üben – wird weder gegen mögliche Beteiligte ermittelt noch gegen Helfer. Stattdessen wird behauptet, Gencer habe allein gehandelt. Laut Anklage seien keine Verbindungen zu Organisationen oder bandenmäßigen Strukturen festgestellt worden – weder vor der Tat, währenddessen oder danach. Dies erscheint im Hinblick auf seine ideologische Gesinnung für wenig glaubwürdig.

In der Anklageschrift werden eine Reihe von Personen aus seinem Umfeld zitiert, darunter mehrere Taxifahrer, bei denen Onur Gencer, der von Beruf Rettungssanitäter ist, einen „verwirrten Eindruck“ gemacht hätte. Im gleichen Atemzug wird hervorgehoben, dass der offenkundige Faschist angeblich seit Jahren an Angststörungen leiden würde und eine leichte Depression bei ihm diagnostiziert worden sei. Damit will die Staatsanwaltschaft offenbar erreichen, dass es bei dem Prozess auf eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit beziehungsweise Schuldunfähigkeit des Angeklagten hinausläuft. Wieso er dann im Besitz eines von der Polizei ausgestellten Waffenscheins war, ist unklar.