Die Oberstaatsanwaltschaft Izmir hat am Montag Anklage gegen Onur Gencer wegen Mordes an Deniz Poyraz erhoben. Der 27-jährige Anhänger der rechtsextremen Organisation „Graue Wölfe“ hatte gestanden, die kurdische Aktivistin Deniz Poyraz vergangenen Juni beim Anschlag auf die HDP-Zentrale in der westtürkischen Küstenmetropole Izmir erschossen zu haben. Die Anklage wirft ihm Mord mit dem Tatbestandsmerkmal der Heimtücke, Hausfriedensbruch und Beschädigung von Eigentum einer politischen Partei vor und fordert erschwerte lebenslange Haft plus weitere sieben Jahre Gefängnis. Der Prozess wird an der 6. Großen Strafkammer zu Izmir verhandelt, ein Termin wurde noch nicht genannt.
Die Anklagepunkte gegen Gencer sorgten zunächst für Überraschung, nach einem zweiten Blick auf die Anklageschrift stellt sich das geforderte Strafmaß allerdings als bloße Augenwischerei heraus. Denn obwohl Auswertungen seiner Handydaten nach Auffassung des Rechtsbeistands von Hinterbliebenen der getöteten Deniz Poyraz den Schluss zulassen, dass der Mann nicht allein handelte und die Tat vielmehr auf das Konto einer organisierten Struktur geht, und der Mordplan bis ins Detail ausgefeilt war – 115 Mal habe er sich innerhalb eines Jahres in der näheren Umgebung der HDP-Zentrale zur Erkundungstour aufgehalten, 24 Mal war er im Gebäude, zwei Mal ging er kurz vor dem Anschlag auf einem Schießstand üben – wird weder gegen mögliche Beteiligte ermittelt noch gegen Helfer. Stattdessen wird behauptet, Gencer habe allein gehandelt. Es seien keine Verbindungen zu Organisationen oder bandenmäßigen Strukturen festgestellt worden – weder vor der Tat, währenddessen oder danach. Dies erscheint im Hinblick auf seine ideologische Gesinnung für wenig glaubwürdig.
In der Anklageschrift werden eine Reihe von Personen aus seinem Umfeld zitiert, darunter mehrere Taxifahrer, bei denen Onur Gencer, der von Beruf Rettungssanitäter ist, einen „verwirrten Eindruck“ gemacht hätte. Im gleichen Atemzug wird hervorgehoben, dass der offenkundige Faschist angeblich seit Jahren an Angststörungen leiden würde und eine leichte Depression bei ihm diagnostiziert worden sei. Damit will die Staatsanwaltschaft offenbar erreichen, dass es bei dem Prozess auf eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit beziehungsweise Schuldunfähigkeit des Angeklagten hinausläuft. Wieso er dann im Besitz eines von der Polizei ausgestellten Waffenscheins war, ist unklar.
Ein unter „Angstzuständen“ leidender Onur Gencer lässt sich in Aleppo und Minbic schwerbewaffnet an Stellungen der türkischen Besatzungstruppen ablichten
Deniz Poyraz ist am 17. Juni in der HDP-Zentrale im Bezirk Konak mit sechs Kugeln niedergestreckt worden. An dem Tag sollte in dem Gebäude eine Vorstandssitzung mit etwa vierzig Personen stattfinden, die kurzfristig verschoben worden war. Die HDP sprach daher von einem Massaker, das dort hätte stattfinden sollen. Eine auf Video festgehaltene Tatortbegehung unmittelbar nach dem Mord zeigte, dass nicht nur ein bis zwei gezielte Schüsse abgegeben wurden. Die Schäden in den Räumlichkeiten deuteten auf einen Dauerbeschuss hin, mit dem alle Anwesenden hätten getötet werden sollen. Allein die verschlossene Tür des Büros des Vorstands hatte Onur Gencer durch mehrere Schüsse auf das Schloss entriegelt. Nach der Bluttat veröffentlichte er via WhatsApp ein Foto der getöteten Deniz Poyraz mit dem Zusatz: „Leiche 1“. Dies deutet darauf hin, dass Gencer eine größere Zielgruppe im Visier hatte. Seine Behandlung durch die Polizei spricht ebenfalls für eine organisierte Tat. Gencer war bei seiner Festnahme am Tatort äußerst höflich von Beamten aus dem Gebäude herauseskortiert und mit „Bruder“ angesprochen worden. Wieso er trotz massiver Polizeipräsenz am Eingang schwerbewaffnet in das rund um die Uhr von der Polizei überwachte Gebäude eindringen konnte, darauf hat die Oberstaatsanwaltschaft Izmir keine Antworten.