Nachrichtensperre für Prozess um Zwangsverheiratung von Sechsjähriger

In Istanbul hat der Prozess um die Zwangsehe einer Sechsjährigen begonnen. Das Gericht sorgte direkt zu Beginn für einen Skandal, indem es auf Antrag des Familienministeriums eine Nachrichtensperre verhängte und einen Öffentlichkeitsausschluss gewährte.

In Istanbul hat der Prozess um die Zwangsverheiratung einer Sechsjährigen vor knapp 20 Jahren begonnen. Der Auftakt fand am Montag unter großer medialer Aufmerksamkeit an einer der großen Strafkammern im Justizpalast Anadolu statt. Angeklagt sind der Ex-Mann der heute Erwachsenen und ihre Eltern. Allen dreien wird Kindesmissbrauch vorgeworfen, der Ex-Ehemann wird zudem der sexuellen Nötigung beschuldigt.

Im Vorfeld der Verhandlung hatten sich unter dem Dach der Plattform „Frauen sind gemeinsam stark“ (KBG) organisierte Gruppen sowie Vertreterinnen von zivilgesellschaftlichen Verbänden und politischen Parteien versammelt, um die systematische Vergewaltigung von Minderjährigen und die Vertuschung der Taten durch offizielle Institutionen anzuprangern. „Wir sind hier, um Aufmerksamkeit zu schaffen und Solidarität zu zeigen“, erklärte Cemile Baklacı und verlas eine Erklärung der KBG. Die Aktivistin verwies darauf, dass Verfassung und Gesetze zwar in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht betonten. Das stehe aber nur auf dem Papier. „Tatsächlich ist deren Lage weiterhin besonders prekär, weil entsprechende Gesetze nicht umgesetzt werden. Das wird immer wieder dann besonders deutlich, wenn Fälle wie der heute verhandelte Einblicke auf das Zusammenspiel zwischen Staat beziehungsweise Regierung und religiöse Sekten und Gemeinden liefern.“

Den Skandal hatte der Journalist Timur Soykan in der linken Tageszeitung „BirGün“ aufgedeckt. Die heute 24-jährige Frau, die öffentlich nur unter den Initialen H.K.G. bekannt ist, hatte der Staatsanwaltschaft Ende 2020 geschildert, wie ihr Vater Yusuf Ziya Gümüşel, einflussreiches Mitglied der islamistischen Ismail-Ağa-Sekte und Gründer der AKP-nahen Hiranur-Stiftung, sie 2004 mit dem damals 29-jährigen Ordensmann Kadir Istekli verheiratete. Es sei Gümüşel persönlich gewesen, der die sogenannte Imam-Ehe seiner Tochter mit dem „Bräutigam“, der als Hodscha (Koranlehrer) in der stiftungseigenen Medrese arbeitete, geschlossen habe. Die beiden seien auch standesamtlich getraut worden, nachdem die Klägerin die Volljährigkeit erreicht hatte. Dem Ex-Ehemann drohen mehr als 67 Jahre, den Eltern mehr als 22 Jahre Gefängnis. Die männlichen Angeklagten befinden sich in Untersuchungshaft.

Zahlreiche Frauenrechtlerinnen, Politikerinnen und Aktivistinnen verfolgten die Anhörung im großen Saal des Gerichts, auf dem Korridor harrten Dutzende Polizisten aus. Rechtsanwältinnen verschiedener Kammern des Landes, die als Nebenklägerinnen auftreten, gaben Erklärungen ab und forderten die Justiz auf, Gewalt gegen Mädchen und Frauen konsequenter zu verfolgen und Opfer besser zu schützen. Hinsichtlich des Vorwurfs, der Missbrauch von H.K.G. sei systematisch vertuscht worden, wurden harte Konsequenzen gegen die Verantwortlichen gefordert. 2012 war in dem Fall bereits einmal ermittelt worden, nachdem eine Ärztin auf den Missbrauch aufmerksam wurde und die Behörden verständigte. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren aber eingestellt, weil die Zustimmung des Mädchens zur Ehe und zum Geschlechtsverkehr vorgelegen habe. Laut „BirGün“ hatten der Ehemann und die Eltern mittels gefälschter medizinischer Tests vorgetäuscht, dass die damals erst 14-Jährige bereits 21 Jahre alt sei. Die Staatsanwaltschaft habe nun auch Beschwerde gegen die damals ermittelnden Behörden eingereicht.

Nach Verlesung der Anklageschrift ging es tumultartig zu. Das Gericht verhängte auf Antrag des türkischen Familienministeriums eine Nachrichtensperre über den Prozess und schloss die Öffentlichkeit aus. Die gerichtliche Anordnung richtet sich an sämtliche Medienhäuser und Agenturen, die Nachrichten verbreiten, welche in der Türkei abrufbar bzw. erhältlich sind. Alle weiteren Verhandlungen werden somit in nichtöffentlicher Sitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt – offiziell, um eine „äußere Beeinflussung des Gerichts“ zu vermeiden. Frauenorganisationen sehen die gesetzliche Unterbindung der Medienberichterstattung über den Prozess äußerst kritisch und protestierten lautstark. Zahlreiche Kammern haben angekündigt, gegen beide Entscheidungen vorzugehen.