Im Fall der 24-jährigen Frau, die als sechsjähriges Mädchen von ihrem Vater zwangsverheiratet wurde, ist das Gericht in Istanbul zurückgerudert: Hatte die zuständige Strafkammer zuvor noch mehrere Anträge der Staatsanwaltschaft auf Erlass von Haftbefehlen gegen den Vater sowie „Ex-Mann“ mit Verweis auf fehlende Fluchtgefahr zurückgewiesen, ist nun doch Untersuchungshaft angeordnet worden. In beiden Fällen sei mit Blick auf die Beweislage sowohl Fluchtgefahr als auch Verdunkelungsgefahr gegeben, erklärte die Justizbehörde Mitte der Woche und ließ damit eine Beschwerde der Nebenklagevertretung zu. Beide Männer befinden sich seit Donnerstag hinter Gittern. Außerdem wurde die Eröffnung des Prozesses vorgezogen und auf den 30. Januar terminiert. Zuvor hatte das Gericht den Prozessauftakt auf Ende Mai 2023 angesetzt – dagegen hatte es einen Sturm der Entrüstung gegeben. Vor allem Frauenorganisationen wichen in den letzten Tagen kaum noch von den Straßen.
Den Skandal hatte der Journalist Timur Soykan in der linken Tageszeitung „BirGün“ aufgedeckt: Die heute 24-jährige Frau, die öffentlich nur unter den Initialen H.K.G. bekannt ist, hatte der Staatsanwaltschaft geschildert, wie ihr Vater Yusuf Ziya Gümüşel, einflussreiches Mitglied der islamistischen Ismail-Ağa-Sekte und Gründer der AKP-nahen Hiranur-Stiftung, sie im Jahr 2004 zwang, den damals 29-jährigen Kadir Istekli, der ebenfalls der Sekte angehörte, zu heiraten. Kurz zuvor hatte sie sich von dem Mann scheiden lassen.
Es sei Gümüşel persönlich gewesen, der die „Imam-Ehe“ seiner Tochter mit dem „Bräutigam“, der als Hodscha (Koranlehrer) in der stiftungseigenen Medrese arbeitete, schloss. Laut Anklageschrift wurde dem Kind fortan durch Istekli körperliche und sexualisierte Gewalt angetan. Als es 14 Jahre alt war, wurde die „Hochzeit“ gefeiert. Ab dem Zeitpunkt lebte H.K.G. mit Istekli unter einem Dach. Mit 17 wurde sie schwanger und bekam einen Sohn. Als sie 18 Jahre alt war, wurde sie standesamtlich verheiratet.
Obwohl H.K.G. ihren „Ex-Mann“ und ihre Eltern bereits im November 2020 wegen Kindesmissbrauchs und erzwungener Heirat anzeigte, wurde der Fall zwei Jahre lang verschleppt. Erst als Timur Soykan an die Aussagen der Frau gelangte und den Skandal öffentlich machte, kam die Staatsanwaltschaft in die Gänge. Für Kadir Istekli fordert die Behörde bis zu 67 Jahre Haft – wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs. Yusuf Ziya und Fatma Gümüşel, die Mutter der Betroffenen, sollen jeweils für 22,5 Jahre ins Gefängnis. Ihnen wird zur Last gelegt, die Misshandlungen der Tochter durch Istekli zugelassen zu haben. Im Fall von Fatma Gümüşel sprach sich das Gericht gegen einen Haftbefehl aus und ordnete stattdessen an, dass in einer ärztlichen Untersuchung festgestellt werden soll, ob eine psychische Krankheit und Unterbringungsbedürftigkeit vorliegen.