Zwangsverheiratung von Sechsjähriger erschüttert die Türkei
In der Türkei schlagen die Wellen der Empörung hoch. Eine heute 24-Jährige wurde offenbar im Alter von sechs Jahren mit einem sehr viel älteren Mann zwangsverheiratet.
In der Türkei schlagen die Wellen der Empörung hoch. Eine heute 24-Jährige wurde offenbar im Alter von sechs Jahren mit einem sehr viel älteren Mann zwangsverheiratet.
Ein schockierender Fall von Kindesmissbrauch erschüttert derzeit die Türkei. Das Opfer ist eine heute 24-jährige Frau, die offenbar im Alter von sechs Jahren mit einem sehr viel älteren Mann zwangsverheiratet wurde. Ein Strafgericht in Istanbul hat die Anklageschrift wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen am Freitag angenommen. Doch der Prozess soll erst ab Mai verhandelt werden.
Der Fall wurde publik, nachdem die betroffene Frau Anzeige erstattete und der Journalist Timur Soykan in der linken Tageszeitung „BirGün“ darüber berichtete. Angeklagt sind Kadir Istekli, der „Ex-Mann“ der in Medien „H.K.G.“ genannten Frau, sowie ihre Eltern. Sie wirft ihrem Vater Yusuf Ziya Gümüşel, einflussreiches Mitglied der islamistischen Ismail-Ağa-Gemeinde und Gründer der AKP-nahen Hiranur-Stiftung, vor, sie im Jahr 2004 mit einem anderen Mitglied zwangsverheiratet zu haben. Den Eltern wird zur Last gelegt, die Gewalt gegen die Tochter gebilligt zu haben.
Es sei der Vater persönlich gewesen, der die sogenannte Imam-Ehe seiner Tochter mit dem damals 29-jährigen „Bräutigam“, der als Hodscha (Koranlehrer) in der stiftungseigenen Medrese arbeitete, schloss. Laut Anklageschrift wurde dem Kind fortan durch Istekli körperliche und sexualisierte Gewalt angetan. Als es 14 Jahre alt war, wurde die „Hochzeit“ gefeiert. Ab dem Zeitpunkt lebte H.K.G. mit Istekli unter einem Dach.
H.K.G. als sechsjährige „Braut“
Eine aufmerksame Ärztin in einer Istanbuler Poliklinik, die Verdacht schöpfte, als sie das Mädchen im Jahr 2012 wegen starken Menstruationsbeschwerden untersuchte, schaltete die Polizei ein. Auf dem Revier wurde behauptet, das Kind sei schon erwachsen, nur bei der Ausstellung der Geburtsurkunde habe man das Alter viel jünger angegeben. Der damals mit dem Fall betraute Staatsanwalt ordnete die Bestimmung des Knochenalters an, doch die Eltern schickten eine 21-jährige Bekannte in die Untersuchung. Der Fall wurde zu den Akten gelegt, die Jugendliche galt als erwachsen. Mit 17 wurde H.K.G. schwanger und bekam einen Sohn. Als sie 18 Jahre alt war, wurde sie standesamtlich verheiratet.
Laut Anklageschrift hatte sich H.K.G. Ende November 2020 an die Staatsanwaltschaft gewendet. Kurz zuvor war die Ehe geschieden worden. Es existieren Fotos, die sie als Sechsjährige im Hochzeitkleid zeigen. Die Eltern gaben an, die Bilder seien bei einer Koran-Abschlussfeier entstanden. Für Kadir Istekli fordert die Staatsanwaltschaft bis zu 67 Jahre Haft. Gegen Yusuf Ziya und Fatma Gümüşel, die Mutter der Betroffenen, werden mindestens 27 Jahre Gefängnis gefordert.
„Dass es nicht normal ist, mit sechs Jahren verheiratet zu werden, das habe ich erst verstanden, als ich es auf dem Handy recherchiert habe.“ Das hat laut Anklageschrift die junge Frau zu Protokoll gegeben, die jetzt 24 Jahre alt ist. Das türkische Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie ist Medienberichten zufolge Mitkläger. Doch das von der AKP-Politikerin Derya Yanık geleitete Amt erhielt bereits 2020 Kenntnis von dem Fall. Am Samstagabend sorgte Yanık während einer Haushaltsdebatte im türkischen Parlament für einen handfesten Skandal, als sie sichtlich empört über die Proteste aus den Reihen der Oppositionsparteien HDP, TIP und CHP äußerte, der Staat habe die Frau in seine Obhut genommen.
Yusuf Ziya Gümüşel
„Wir ermöglichen dem Opfer eine Berufsausbildung und einen Englischkurs. Sie lernt hierdurch, ein eigenständiges Leben zu führen. Wir leisten das Notwendige zur absoluten Geheimhaltung des Aufenthaltsortes.“ Kein Wort darüber, warum die Anzeige des Ministeriums erst jetzt und nicht schon Jahre vorher kam.
Die HDP-Vizefraktionsvorsitzende Meral Danış Beştaş forderte Yanık umgehend auf, von ihrem Amt als Ministerin für Familie und Soziales abzudanken. „In anderen Ländern würden Regierungen nach einem Skandal mit diesem Ausmaß geschlossen zurückgetreten. In der Türkei brüstet sich eine Familienministerin damit, einer im Alter von sechs Jahren zwangsverheirateten jungen Frau einen Ausbildungsplatz vermittelt zu haben. Statt den Kindesmissbrauch zu bekämpfen, schützen Sie die Täter.“
Die islamistische Ismail-Ağa-Gemeinde ist eng verbunden mit der AKP. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass die Regierungspartei von Präsident Recep Tayyip Erdogan mehrere Tage brauchte, um sich zu äußern - obwohl über dieses Thema seit Tagen in der Türkei heftig diskutiert wird. AKP-Sprecher Ömer Çelik hat dabei allgemein „Kindesmissbrauch“ kritisiert, aber nicht die Ismail-Ağa-Gemeinde erwähnt. Gegen den erstmals mit dem Fall betrauten Staatsanwalt sei beim Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) eine Beschwerde eingereicht worden.
Die Ismail-Ağa-Gemeinde ist eine der größten orthodox-sunnitischen Gemeinschaften in der Türkei. Sie ist nach der Ismail-Ağa-Moschee benannt und wurde Anfang der 1980er Jahre von dem Imam Mahmut Ustaosmanoğlu gegründet, der sie danach 42 Jahre lang leitete. Die Gemeinde zählt etwa 100.000 Anhänger und ist im Istanbuler Viertel Çarşamba ansässig. In Koranschulen, eigenen Medien und Privatschulen im ganzen Land predigt sie gegen den Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion. Das selbsterklärte Ziel der Gemeinde besteht darin, „der Menschheit das Licht des Islam in seiner hellsten und lebendigsten Form unter der Führung unserer Heiligkeit Mahmud Efendi (Kuddise Sirruhu) in der immerwährenden Suche nach Frieden für die Menschheit zu präsentieren“.
Im Juni war Mahmut Ustaosmanoğlu im Alter von 93 Jahren gestorben. An seiner Beerdigung - von der Frauen ausgeschlossen waren - wohnte Erdogan bei und trug auch den Sarg. Zudem wurde in seinem Namen ein Nachruf in mehreren türkischen Zeitungen veröffentlicht. Meral Danış Beştaş und alle anderen weiblichen Mitglieder der HDP-Fraktion im türkischen Parlament haben bei den Ministerien für Justiz, Familie, Gesundheit und Kultur eine schriftliche Anfrage zur Beantwortung mit insgesamt 105 Fragen zum Fall H.K.G. eingereicht. Eine davon lautet: „Mit welcher Begründung sind mehrere Anträge der Staatsanwaltschaft Istanbul auf Erlass von Haftbefehlen gegen Kadir Istekli sowie Fatma und Yusuf Ziya Gümüşel von der zuständigen Strafkammer abgelehnt worden?“ Eine Antwort liegt noch nicht vor.