Vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist am Donnerstag der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Mustafa (Amed) Çelik fortgesetzt worden. Der 43-Jährige wird der Mitgliedschaft in der PKK beschuldigt und ist seit seiner Festnahme in Bremen im vergangenen Januar in Untersuchungshaft. Die Oberstaatsanwaltschaft fordert zwei Jahre und acht Monate Freiheitsstrafe. Am gestrigen Prozesstag beendet Çelik sein Schlusswort. Die Urteilsverkündung wird voraussichtlich in der nächsten Woche am 1. Oktober um 11 Uhr erfolgen.
Mustafa Çelik machte in seiner mehrstündigen Rede deutlich, dass er sein Leben den Rechten und der Würde des kurdischen Volkes und der Frauen gewidmet hat: „Es ist nicht wichtig, wie lange man lebt, sondern für welche Werte man sein Leben lang einsteht.“ In Hinblick auf die gesellschaftliche Stellung von Frauen im Mittleren Osten, wo die Ehre der Gesellschaft zu Lasten der Frauen geht, zitierte er Simone de Beauvoir: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht“.
Geschichtliche Dimension der kurdischen Frage in der Außen- und Innenpolitik der Nationalstaaten
Nachdem Mustafa Çelik am Vortag in seinem Schlussvortrag auf die Ursprünge der kurdischen Geschichte im Neolithikum Mesopotamiens sowie auf die nationalstaatlichen Verflechtungen der Türkei mit NATO/GLADIO einging, führte er am Donnerstag die politischen Entwicklungen und Friedensinitiativen zur kurdischen Frage in den letzten 20 Jahren aus.
Çelik schlussfolgerte, dass sein politisches Engagement durch die deutsche Rechtsprechung kriminalisiert werde, denn nicht alle, die nach dem Paradigma Abdullah Öcalans für eine geschlechterbefreite, demokratische und laizistische Gesellschaft eintreten, seien Mitglied in der PKK. Auch die Gleichsetzung der PKK mit dem Islamischen Staat (IS) ist für ihn inakzeptabel. In der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien (Rojava) haben 68 verschiedene Länder im Rahmen der internationalen Koalition, angeführt von den USA, Deutschland, Frankreich und England, den IS im Jahr 2019 militärisch besiegt. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), deren größte Verbände die kurdische Verteidigungseinheiten YPG und YPJ sind, führten während der gesamten Operation den Kampf am Boden alleine. Etwa 11.000 Kämpferinnen und Kämpfer sind dabei ums Leben gekommen, 25.000 gelten heute als Kriegsversehrte. In Südkurdistan (Nordirak) vermochte keine Streitmacht der Welt zwischen 2006 und 2018 der sich zum Islamischen Staat entwickelnden Organisation etwas entgegensetzen, weder die NATO-Staaten noch Russland, Syrien oder Iran. In Kerkûk, Şengal, Mosul, Hewlêr (Erbil) und Mexmûr waren es die Volksverteidigungskräfte der PKK (HPG), die die Bevölkerung vor einem weiteren Massenmord bzw. Genozid an der ezidischen Gemeinschaft schützten.
2019 wurden die Kurden von der internationalen Staatengemeinschaft, die sich zur Bekämpfung des IS zusammengeschlossen hat, fallengelassen. Im Oktober vergangenen Jahres startete das Erdogan-Regime mit pro-türkischen Dschihadistenmilizen und Söldnertruppen vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine völkerrechtswidrige Invasion in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien und besetzte die Städte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) sowie umliegende Regionen. Ein Jahr zuvor (2018) wurden Teile des Kantons Efrîn (Afrin) unter den gleichen Bedingungen besetzt. In dieser Woche wurde der Bericht (https://anfdeutsch.com/aktuelles/verschiedene-un-staaten-fordern-aufklaerung-der-sna-verbrechen-21747) der unabhängigen internationalen Untersuchungskommission über Syrien auf der 45. Sitzung der UN-Menschenrechtskommission vorgestellt. Viele UN-Staaten fordern darin Aufklärung über die Kriegsverbrechen der durch die Türkei gelenkten und finanziell unterstützten Syrischen Nationalarmee (SNA). Dabei kommen auch Kriegswaffen (https://anfdeutsch.com/aktuelles/Ueber-ein-drittel-deutscher-kriegswaffen-gehen-an-die-tuerkei-19964) deutscher Herkunft zum Einsatz. In den besetzen Gebieten kommt es dem Bericht zufolge zu systematischer Folter, Vergewaltigung, Entführungen und Plünderungen. Die verbliebene Bevölkerung wird zudem einer Zwangsislamisierung und Zwangstürkisierung unterworfen. Die Zivilbevölkerung wird massiv in ihren Menschenrechten eingeschränkt, kulturelle Monumente werden zerstört und die Verwendung der kurdischen Sprache wird unter Strafe gestellt.
So resümierte Çelik zu diesem Teil seines Schlusswortes: „Staaten haben kein Gewissen, ich weiß das. Menschenrechte werden wirtschaftlichen Interessen geopfert, aber dieser Zustand ist unethisch und von schamloser Unmenschlichkeit gekennzeichnet.“
Sabotage der Friedensprozesse durch NATO/GLADIO
Wie schon an den vorherigen Prozesstagen legte Çelik deutlich dar, dass die Politik Erdogans durch die rassistische Tradition des türkischen Staats gekennzeichnet ist. Zudem seien viele Friedensinitiativen Abdullah Öcalans von türkischen Staatsträgern, den Strukturen des tiefen Staates der Türkei (Ergenekon), NATO-Staaten bzw. GLADIO in Zusammenarbeit mit diversen Nachrichtendiensten sabotiert worden. Diese seien auch 1998 und 1999 am internationalen Komplott beteiligt gewesen, der zu der Verschleppung Öcalans in die Türkei führte. Als Beispiel nannte Çelik die dreijährige Osloer Friedensepisode, die 2011 vom türkischen Staat beendet wurde und eine massive Angriffswelle auf die Guerillagebiete in Südkurdistan nach sich zog. 2013 wurde Sakine Cansiz, eine Mitbegründerin der PKK, in Paris mit zwei weiteren kurdischen Frauen durch einen vom türkischen Geheimdienst MIT beauftragten Killer ermordet. Dieses politische Attentat mitten in Europa fand zu einer Zeit statt, in der Verhandlungsgespräche mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali aufgenommen worden waren. Çelik bezeichnete die Taktik der türkischen Staatsführung, „auf Friedensgespräche eingehen, um dann zu einem kräftigen Erstschlag auszuholen“, als äußerst schädlich für einen Friedensprozess in der Türkei.
Zurück in die dunkle Zeit der neunziger Jahre
In Hinblick auf die in den Medien so bezeichnete „Hubschrauber-Folter“ erklärte Çelik, der türkische Staat strebe eine Neuauflage der staatlichen Konter-Methoden aus den neunziger Jahren an. Während dieser Zeit, in die ca. 17.500 ungeklärte Morde fallen, welche den Todesschwadronen des JITEM (inoffizieller Militärgeheimdienst) zugerechnet werden können, habe sich deutlich die auf einen Genozid abzielende Vernichtungspolitik des türkischen Staates gezeigt. Auch die 3.500 bis 4.000 zerstörten Dörfer in den kurdischen Gebieten der Türkei sind laut Çelik in diesem Kontext zu betrachten.
Um weiter zu verdeutlichen, welch brutaler sexistischer, rassistischer und faschistischer Gewalt insbesondere Kurdinnen in der Türkei heutzutage ausgesetzt sind, bezog sich Çelik auf einige der jüngsten Beispiele. Für einige Zuschauer*innen erkennbar schwer zu ertragen, berichtet er von dem Schicksal einer jungen Frau aus Êlih (türk. Batman) sowie von weiteren Fällen, in denen Armeeangehörige junge kurdische Frauen und auch Mädchen vergewaltigt haben sollen. Er ging auch auf die in der Türkei praktizierte „Politik der Straflosigkeit“ ein, die dazu führt, dass Gewalttäter gegen Frauen kaum strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten haben.
Die Eskalation der Gewalt in Nordkurdistan ist auch dem Bericht der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Amed aus August zu entnehmen. Innerhalb der türkischen Armee nehmen die teils tödlichen Attacken auf kurdische Wehrpflichtige zu, zuletzt wurde ein Fall aus Izmir bekannt. Doch nicht nur in Nordkurdistan, in der gesamten Türkei sind insbesondere kurdischstämmige Menschen einer zunehmenden Gewalt durch nationalistische und faschistische Angriffe ausgesetzt. Der vor wenigen Wochen erfolgte Lynchmordversuch an kurdischen Saisonarbeiter*innen ist kein Einzelfall in der Türkei.
Weiter spannte Çelik den Bogen von 2006, als eine große Repressionswelle mit Massenverhaftungen kurdischer Politiker*innen und zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen begonnen hatte, bis zum Jahr 2020, in dem Massenverhaftungen insbesondere von HDP-Politikerinnen und Frauenrechtsaktivistinnen wieder auf der Tagesordnung des Erdogan-Regimes stehen.
Zum Ende seines Schlussvortrags zeigte Çelik der vorsitzenden Richterin sehr detailliert auf, aus welchen Regionen die 2,5 Millionen Menschen stammen, die aufgrund der Angriffe des türkischen Staates auf alle vier Teilen Kurdistans innerhalb der letzten fünf Jahre fliehen mussten. Neben den überwiegenden Binnenvertriebenen flüchten viele Menschen auch nach Europa. In den letzten fünf Jahren ist die Zahl der kurdisch-stämmigen Bevölkerung in Deutschland laut Çelik von 800.000 Menschen auf ca. 1,5 Millionen gestiegen. Die Schätzungen schwanken dabei aufgrund der schwierigen Bedingungen und Repressionen, denen Asylsuchende hierzulande ausgesetzt sind.
Deutlich kritisierte Çelik in diesem Zusammenhang die „Doppelgesichtigkeit“ der nationalstaatlichen Regierungen. Zum Vergleich führte Çelik das Massaker von Srebrenica zu Zeiten des Bosnienkrieges an, wobei der Mord an 8.000 Zivilist*innen von den UN als Genozid eingestuft wird. In Kobanê fielen ebenfalls mehrere tausend Zivilist*innen zwischen 2014-2015 dem IS zum Opfer. In diesem Zusammenhang stellte Çelik eine rhetorische Frage an das Gericht: „Wo ist der Unterschied bei diesen Menschenleben, warum ist der Massenmord an Kurdinnen und Kurden kein Genozid?“ Er beantwortet die Frage selbst: „Weil kurdisches Leben für Sie nicht relevant ist.“ Çelik schloss diesen Abschnitt seines Schlusswortes mit: „Die Anklage ist kein Problem für mich. Ich und die PKK sind das Ergebnis einer nicht geklärten Kurdenfrage. Das ist mein Problem.“
„Auch wir möchten leben“
Immer wieder machte Çelik an verschiedenen Stellen seines Schlusswortes deutlich, dass die Lösung der kurdischen Frage durch die Legalisierung der PKK und die Freilassung von Abdullah Öcalan erfolgen muss. In seinen Ausführungen bekräftigte er, dass es an der Zeit ist, das PKK-Verbot in Deutschland aufzuheben. Der Weg zur Freiheit des kurdischen Volkes hin zu einem nachhaltigen Frieden im Mittleren Ostens gemäß des „apoistischen Paradigmas“ könne nicht ohne laizistische und demokratische Werte und eine ökologisch bewusste Gesellschaft entstehen.
Die Autonomieregion Nord -und Ostsyrien sei beispielhaft für das gelebte Paradigma, in dem die multiethnischen Völker und Religionsgemeinschaften sich in Rätestrukturen und Kommunen selbst verwalten und Geschlechtergerechtigkeit ein Eckpfeiler des Gesellschaftsvertrags ist. An das Gericht gewandt, sagte Çelik, für ihn hätten auch die Worte von Martin Luther King Gültigkeit: „Wenn du nicht bereit bist, für deine Freiheit etwas zu geben, solltest du das Wort nicht in den Mund nehmen.“
Deutlich bekundete er seine Verbundenheit mit Abdullah Öcalan und dem Wunsch nach Frieden in Kurdistan mit den Worten: „Es lebe Abdullah Öcalan! Es lebe das Projekt des Friedens! Es leben die Frauen! Es leben die kurdischen Politikerinnen und Politiker, die in Kurdistan gegen den Faschismus kämpfen! Es lebe die Geschwisterlichkeit der Völker! Ich verneige mich voller Ehrfurcht vor den 11.000 Gefallenen aus Rojava.“
„Der Fluss der Tränen und des Blutes in meinem Land muss beendet werden“
An die vorsitzende Richterin appellierte Çelik zum Schluss: „So lange ich mir meiner selbst bewusst bin, stelle ich mich dem Gewissen von Frauen. Ich hoffe, dass Ihr Urteil ein Ende der Schmerzen des kurdischen Volkes bedeutet. Vor allem aus humanitärer Sicht. Der Fluss der Tränen und des Blutes in meinem Land muss beendet werden.“
Wie schon zu Beginn der Verhandlung grüßte Mustafa Çelik die anwesenden Zuhörer*innen und wünschte allen Prozessteilnehmer*innen viel Erfolg in ihrem Leben. Für sein Volk und für alle Frauen und Kinder im Mittleren Osten forderte er die sofortige Umsetzung des Urteils des belgischen Kassationsgerichtshofes, der festgestellt hatte, dass die PKK keine Terrororganisation ist. Im Hinblick auf die Anklage, die zum Großteil auf der organisatorischen Unterstützung des Hungerstreiks in Straßburg gegen die Isolation Abdullah Öcalans im letzten Jahr basiert, bekräftigte Çelik: „Ich stehe zu allem, was ich getan habe, und werde weiterhin jede Initiative und Aktion für Frieden in Kurdistan unterstützen.“