Lynchversuch in Sakarya: „Sie wollten uns töten“

In Kurdistan ist die Welle der Empörung groß über den rassistischen Angriff auf kurdische Saisonkräfte in der westtürkischen Provinz Sakarya. Wir haben mit den Betroffenen gesprochen.

Der rassistische Angriff auf kurdische Erntehelfer*innen in der westtürkischen Provinz Sakarya hat eine Welle der Empörung ausgelöst. Der antikurdische Rassismus prägt die Türkei seit jeher, erklärte der Menschenrechtsverein IHD. „Die weitere Ausbreitung dieser tief sitzenden Intoleranz Kurdinnen und Kurden gegenüber kann nur durch die Abschaffung des institutionalisierten Rassismus vermieden werden.” Da das derzeitige politische System in der Türkei den Rassismus aber weiter befeuere, sehen die Prognosen düster aus.

Was war geschehen? Am Freitag wurde eine 16-köpfige Gruppe von Saisonkräften aus Şemrex (türk. Mazıdağı) bei Mêrdîn (Mardin) in Sakarya von einem türkischen Landwirt und seinen Verwandten beinahe gelyncht. Der Mob bestand sowohl aus zwei Söhnen des Besitzers der Haselnuss-Plantage, als auch aus weiteren Bewohnern des Ortes. Auf Videoaufnahmen ist zu erkennen, wie die Saisonarbeiter*innen von mehreren männlichen Personen attackiert werden. Inzwischen konnte ANF mit einem Großteil der Betroffenen sprechen.

Geohrfeigte Minderjährige erst 15

„Es fing alles damit an, dass der Besitzer der Plantage, Hacı Hüseyin Cebecioğlu, uns beschimpfte“, erklärt Rojda Demir, die den Angriff mit ihrem Mobiltelefon aufzeichnete. „Unsere Familie hatte bereits siebzehn Tage lang auf der Plantage gearbeitet, für etwa 100 Lira pro Tag. Der Vorfall spielte sich am 18. Tag unseres dortigen Aufenthalts ab. Ein Enkel von Cebecioğlu kam auf uns zu und sagte, wir sollten die Haselnüsse am Eingang einsammeln. Während wir noch mit ihm sprachen, beleidigte uns Cebecioğlu von seiner Terasse aus als ‚Köterrudel‘. Auch andere Ausdrücke ließ der Mann fallen. Wir entgegneten, solche Beschimpfungen nicht über uns ergehen zu lassen, stellten die Eimer auf den Boden und verließen die Plantage. Hacı Hüseyin Cebecioğlu setzte seine Beschimpfungen derweil fort. Nach etwa zehn Minuten, wir hatten unsere Unterkunft inzwischen erreicht, stürmten Hasan und Kenan Cebecioğlu, die beiden Söhne des Landwirtes, auf uns zu und schrien: ‚Wie könnt ihr es wagen, die Plantage zu verlassen? Wir sind hier nicht in Mardin, sondern Sakarya.‘ Kurz danach wurden meine Cousins bereits geschlagen. Als meine 15-jährige Cousine dazwischen gehen wollte, ist sie geohrfeigt worden.“

Rassismus und Faschismus

Es sei der inzwischen dritte Sommer, den die Familie Demir in Sakarya mit Saisonarbeit verbringt, führt die junge Frau weiter aus. Bisher hätten sie keine rassistischen Ausgrenzungserfahrungen erlebt, die mit dem gestrigen Lynchversuch zu vergleichen wären. „Seit ich elf Jahre alt bin, helfe ich meinen Eltern in den Sommermonaten bei der Saisonarbeit. Das, was gestern geschehen ist, ist nichts anderes als antikurdischer Rassismus und Faschismus“, fügt Rojda Demir hinzu.

Gouverneur versucht Vorfall zu vertuschen

Das Gouverneursamt von Sakarya hatte am Freitag noch versucht, den Vorfall zu vertuschen, und behauptet, der Angriff habe sich im vergangenen Jahr in Kocaeli ereignet. In einer entsprechenden Erklärung verwies der Gouverneur darauf, dass keine Anzeige bei der Polizei eingegangen sei. Hadra Demir gibt an, dass die Militärpolizei (Jandarma) mehrmals verständigt worden sei, aber nicht gekommen wäre. „Wir haben dann irgendwann aufgegeben zu warten, weil sich die Militärpolizei vermutlich auf die Seite der Angreifer gestellt hätte. Sie haben gedroht, uns zu verbrennen, würden wir den Ort nicht verlassen.“

Rojda Demirs Vater Hamdin Demir gibt an, dass Personen aus dem Umfeld von Cebecioğlu versuchten, den Bus der Erntehelfer*innen bei der Fahrt aus dem Ort abzufangen. „Einige hatten Werkzeuge wie Äxte dabei. Sie wollten sie einfach töten. Unsere Kinder haben nur mit Glück überlebt. Zu unterstreichen ist, dass sie sich allein aus dieser Situation befreit haben. Niemand, weder die Polizei noch die Jandarma, hat ihnen geholfen.“

Betroffene werden von Jandarma verhört

Seit der Nacht zum Samstag befinden sich die Betroffenen wieder in Şemrex. Dort ließen sie sich als erstes ärztlich untersuchen. Am Nachmittag wurden sie in die Kommandantur der Militärpolizei bestellt, um Angaben über den Lynchversuch zu machen. Betreut werden sie von Anwält*innen der örtlichen IHD-Zweigestelle. „Statt der Täter sind es wieder die Opfer, die sich rechtfertigen sollen“, sagt Hamdin Demir. Mittlerweile sollen drei der Angreifer festgenommen worden sein. 

Nicht der erste rassistische Angriff auf Kurden in Sakarya

Die westtürkische Provinz Sakarya wurde in den letzten Jahren mehrfach zum Schauplatz rassistischer Übergriffe auf Kurden, die teilweise tödlich endeten. Der 19-jährige Saisonarbeiter Şirin Tosun wurde im August 2019 von einer sechsköpfigen Gruppe gelyncht und anschließend erschossen, weil er Kurdisch gesprochen hatte. Im Dezember 2018 wurden Kadir Sakçı (43) und sein 16-jähriger Sohn Burhan in Sakarya mit einer Schusswaffe angegriffen, weil sie auf die Frage, Kurden zu sein, mit „ja“ geantwortet hatten. Der Vater erlag seinen Schussverletzungen, der Sohn wurde schwer verletzt. Der Angreifer erklärte zu seiner Verteidigung, er sei betrunken gewesen und könne sich an nichts erinnern.