Azadî: Belgisches PKK-Urteil von immenser Bedeutung

Interview mit Monika Morres vom Rechtshilfefonds Azadî und der Anwältin Anna Busl bezüglich des Brüsseler Urteils, dass es sich bei der PKK um keine „terroristische Organisation“, sondern um eine Partei in einem bewaffneten Konflikt handelt.

Der Kassationshof in Brüssel hat am 28. Januar endgültig die Entscheidung des Revisionsgerichts vom März 2019 bestätigt, wonach die kurdische Arbeiterpartei PKK keine „terroristische Organisation”, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist. Für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika sprach Dilan Karacadag mit Monika Morres vom Rechtshilfefonds Azadî und der Anwältin Anna Busl, ob diese Entscheidung das seit 1993 bestehende PKK-Verbot in Deutschland widerlegt, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf die noch bestehenden Prozesse gegen mutmaßliche „PKK-Mitglieder“ hat und ob es wohlmöglich Änderungen in der Kriminalisierungspolitik gegenüber Kurd*innen in Deutschland geben wird.

Frau Monika Morres, wie bewerten Sie die Entscheidung, wonach die PKK keine „terroristische“ Organisation, sondern eine Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ist?

Ein solches Urteil wie dieses hat es in den Jahrzehnten andauernder Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden in Europa – insbesondere natürlich in Deutschland – nicht gegeben. Deshalb bewerte ich die Entscheidung als eminent wichtig.

Hierbei darf nicht vergessen werden, dass es einerseits der beharrlichen und fundierten Arbeit eines hervorragenden Verteidigerteams in diesem großen Verfahren zu verdanken ist, andererseits aber auch der Bereitschaft der Gerichte, sich der vorgelegten Fakten und rationalen Argumente der Anwälte nicht zu verschließen.

Welche rechtlichen und politischen Ergebnisse werden dadurch Ihrer Meinung nach entstehen?

Zuerst einmal ist es Sache der belgischen Regierung und Behörden, mit welcher Ernsthaftigkeit sie sich mit dem Urteil des höchsten Gerichts in diesem Land auseinandersetzen und insbesondere die Entscheidung respektieren. Die Äußerung des belgischen Außenministers Philippe Goffin nach der Urteilsverkündung, die Regierung werde daran festhalten, die PKK als „terroristische“ Organisation zu bewerten, ist inakzeptabel und widerspricht jeglicher demokratischen Gepflogenheit.

So jedenfalls geht es nicht. Ich bin sicher, dass es künftig einen Diskussionsprozess gibt, wie die politischen Gegebenheiten im Sinne des Urteils zu ändern sind.

Tatsache ist aber, dass es nach der Entscheidung des Kassationshofs künftig keine Prozesse gegen Menschen, die sich im Rahmen ihrer politischen Arbeit in der und für die PKK in Belgien betätigen, mehr geben wird.

Welche Änderungen wird dieses in der Kriminalisierungspolitik gegenüber Kurd*innen geben?

Generell kann gesagt werden, dass das Urteil eine positive Auswirkung für Kurdinnen und Kurden hat, und zwar in dem Sinne, dass sie sich endlich einmal ernst genommen fühlen können als politisch handelnde Menschen mit eigenen Anschauungen und Zielsetzungen. Das ist leider nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit. Vor allem nicht in Deutschland.

Aber wir wissen, wie zäh, unbeweglich und unwillig Regierungen sind, wenn sie sich in ihren Interessen gestört fühlen oder in die Lage kommen, eine fehlerhafte Politik gemacht zu haben. Also ist es insbesondere Aufgabe der demokratischen Öffentlichkeit, das träge Schiff in Bewegung zu setzen, damit tatsächlich der (offizielle) Umgang mit der kurdischen Bewegung und ihren Menschen eine Wendung nimmt. Und mithin Änderungen verwirklicht werden.

Wurde mit der Brüsseler Entscheidung das in Deutschland seit 1993 bestehende PKK-Verbot nicht widerlegt?

Aber natürlich. Ich möchte hier daran erinnern, dass Prof. Norman Paech bereits ein Jahr nach dem PKK-Verbot von 1993 ein „Gutachten zu den völkerrechtlichen Fragen der Verbotsverfügung des Bundesinnenministeriums gegen kurdische Vereine und Organisationen in der BRD“ der Öffentlichkeit vorgelegt hat. In ihm hat er sich genau mit jenen Fragen befasst, die auch in dem aktuellen Urteil eine große Rolle gespielt haben.

Im Schlusswort heißt es: „Nach allem muss dem Bundesminister des Innern eine vollkommene Unkenntnis bzw. Nichtberücksichtigung des Rechts auf Selbstbestimmung vorgeworfen werden, welches ein zwingendes Prinzip des Völkerrechts ist (ius cogens). Trägt man diesem Prinzip jedoch Rechnung, so ist es nicht der kurdische Widerstand, sondern die türkische Regierung und das türkische Militär, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstoßen und das friedliche Zusammenleben zwischen Kurden und Türken stören.“

Welche Auswirkungen hat die Entscheidung auf die noch bevorstehenden Prozesse gem. §§129a/b StGB? Welche Initiativen können Anwält*innen zu dieser Entscheidung ergreifen? Wie soll Deutschland künftig mit „Terrorismus“-Anklagen umgehen?

Einerseits haben die Verteidiger*innen in den laufenden Prozessen schon mit der Entscheidung des Revisionsgerichts in Brüssel vom 8. März 2019 argumentiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Urteil aber noch keine Rechtskraft und musste so auch von den deutschen Strafsenaten nicht so ernst genommen werden.

Andererseits waren völkerrechtliche Aspekte und Regelungen des Internationalen Rechts bereits Jahre zuvor fester Bestand von Schriftsätzen der Anwält*innen, zum Beispiel in Revisionsverfahren.

In diesem Zusammenhang muss ich kurz auf Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts – des Bundesgerichtshofs – von 2013/2014 hinweisen. Im Zuge von Revisionsverfahren, der ersten nach §129b, hat der Bundesgerichtshof sämtliche Argumente, die sich auf die Anwendbarkeit des Völkerrechts und auf die Zusatzprotokolle der Genfer Konvention beziehen, vom Tisch gewischt. Der Senat entschied, dass für Kurdistan der Kolonialstatus nicht zutreffe, weil die kurdischen Gebiete nach der Staatsgründung aufgrund des Vertrages von Lausanne 1924 Teil der Türkei seien. Deshalb gebe es auch keine rechtswidrige Besatzung Kurdistans durch die türkische Armee.

Das Argument des herrschenden Rassismus gegen Kurdinnen und Kurden wurde vom Gericht heruntergespielt: Das Ausmaß sei ja nicht so groß wie zur Zeit der Apartheid in Südafrika; immerhin könnten Kurd*innen fürs türkische Parlament kandidieren.

Ein Recht auf Widerstand, erst recht gewaltsamen, sprach das Gericht den Kurdinnen und Kurden generell ab – im Gegensatz zum Urteil von Brüssel. Deshalb werden die Anwält*innen in den derzeit laufenden und noch bevorstehenden Prozessen die sehr ausführliche Urteilsbegründung von Brüssel noch stärker in die Verfahren einbringen.

Die deutsche Politik und Justiz mögen sich bislang noch darauf zurückziehen, dass das Urteil eine Angelegenheit Belgiens sei und mit Deutschland nichts zu tun habe. Ich denke aber, dass dieses Wegducken auf Dauer nicht erfolgreich sein wird.

Dazu ist es aber auch erforderlich, dass die zivilgesellschaftlichen Kräfte auf den unterschiedlichsten politischen Ebenen klar Position beziehen, Aktivitäten entwickeln und Druck auf die politisch Verantwortlichen machen, Konsequenzen aus dem Brüsseler Urteil zu ziehen. Wir fordern seit Bestehen unseres Vereins 1996 die Rücknahme des PKK-Verbots und sind selbstverständlich jetzt erst recht der Auffassung, dass Probleme mit politischen Hintergründen auch politisch gelöst werden müssen und nicht mit dem Strafrecht.

Eine Änderung der Verhältnisse ist lange schon dringend nötig. So hat die Aktion 3. Welt Saar und der Saarländische Flüchtlingsrat am 10. Dezember 2019 mit einer Kampagne auf facebook unter dem Motto „Gesicht zeigen: Statements gegen das Verbot der PKK“ gestartet.

Es gab auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg hinsichtlich der Listung der PKK auf der EU-Terrorliste. Glauben Sie, dass auch das zu greifbaren Konsequenzen führen wird?

Zur Erinnerung: ein Anwält*innen-Kollektiv in den Niederlanden hat im Auftrag von Murat Karayilan und Duran Kalkan im Jahre 2014 gegen den Eintrag der PKK auf der EU-Terrorliste geklagt. Dieses Verfahren endete mit einer Entscheidung des Gerichtshofs vom 15. November 2018. Danach war die Listung der PKK für den Zeitraum 2014–2017 unrechtmäßig. Damit war dieses Verfahren abgeschlossen. Doch wurde die PKK vom Rat der Europäischen Union regelmäßig wieder auf diese Liste gesetzt, wogegen die Anwält*innen jedes Mal wieder Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht haben. Die Verfahren laufen also.

Bislang hat sich nichts Wesentliches geändert. Gerade deshalb müssen wir – auch wenn es sich im juristischen Sinne um zwei verschiedene Dinge handelt – eine Verbindung herstellen zwischen der Forderung nach Streichung der PKK von der EU-Liste und dem Ausgang des Brüsseler Verfahrens.

Es gibt keine Alternative zum politischen Lösungsweg, um diesen seit bald 100 Jahren bestehenden Konflikt friedlich und gerecht zu beenden. Er hat schon so viele Opfer gefordert. Die Anwendung polizei- und strafrechtlicher Methoden jedenfalls ist für demokratische Staaten unwürdig und inakzeptabel.

Frau Ana Busl, wie ist Ihre Bewertung zur Entscheidung?

Ersteinmal: großartig, ein zäher Kampf der Verteidiger-Kollegen hat sich absolut gelohnt. Politisch ist das ein großer Erfolg, denn es führt – in einem EU Land – zu dem Ergebnis, dass die PKK eben keine „Terror-Organisation” ist. Rechtlich ist es natürlich ebenso eine beachtenswerte Entscheidung, denn sie zeigt, womit wir hier in der BRD noch immer auf Granit beißen, dass Art. 1 Abs. 4 ZP I eben keine historische Norm ist, sondern noch immer aktuell, weil es um die Frage des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker geht.

Wurde somit das seit 1993 bestehende PKK-Verbot in Deutschland durch diese Entscheidung nicht widerlegt?

Tatsächlich wird durch diese Entscheidung eines EU-Lands festgestellt: die PKK ist keine Terrororganisation. Damit ist aber natürlich in keiner Weise gesagt, dass die bundesdeutschen Behörden das Verbot der PKK aufheben – aber die Absurdität wird doch deutlich: ein paar Kilometer weiter stellt das höchste Gericht fest, dass die PKK keine terroristische Organisation ist sondern Völkerrechtssubjekt, und stellt fest, das kurdische Volk handelt in Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung. Hier in der BRD heißt es weiterhin, das Verbot der PKK sei Ausdruck der “wehrhaften Demokratie” (BMI).

Sie vertreten politische Gefangene. Welche Auswirkungen hat das auf die noch bevorstehenden Prozesse nach den Paragrafen 129a/b?

Unmittelbar keine – die Verteidigung wird diese Entscheidung in die Prozesse einbringen müssen, argumentieren müssen; von selbst wird der BGH seine bisherige Rechtsprechung sicherlich nicht aufgeben.