Hamburger PKK-Prozess: „Darum sitze ich doch hier“

Im PKK-Verfahren gegen Mustafa (Amed) Çelik in Hamburg hat der Angeklagte in einem ausführlichen Schlusswort die politischen Hintergründe des Prozesses dargelegt. Als die Richterin ihn unterbrechen wollte, sagte er: „Darum sitze ich doch hier."

Vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Mustafa (Amed) Çelik fortgesetzt worden. Der 43-Jährige wird der Mitgliedschaft in der PKK beschuldigt und ist seit seiner Festnahme in Bremen im vergangenen Januar in Untersuchungshaft. Die Oberstaatsanwaltschaft fordert zwei Jahre und acht Monate Freiheitsstrafe.

Bei der heutigen Verhandlung hat die Verteidigung ihr Plädoyer beendet. Der Angeklagte selbst hat damit begonnen, eine ausführliche Abschlussbewertung der politischen Hintergründe des Prozesses abzugeben. Die Verhandlung wird am Donnerstag um 10.20 Uhr fortgesetzt.

Çeliks Verteidiger Heinz Schmitt monierte in seinem bereits vergangene Woche begonnenen Plädoyer, dass in solchen Verfahren die staatlichen Akteure nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Dabei sei der türkische Staat alles andere als schützenswert. Er führte aus, dass sicher niemand auf die Idee käme, einen PKK-Angeklagten in die Türkei auszuliefern, denn auch deutschen Gerichten sei bekannt, dass es in der Türkei keine Rechtsstaatlichkeit gibt. Dies habe zuletzt der vergangene Woche veröffentlichte UN-Bericht über schwere Menschenrechtsverletzungen in der türkischen Besatzungszone in Nordsyrien aufgezeigt.

Auch das Beispiel Osman Kavala zeige die fehlende Rechtsstaatlichkeit. Der Gründer der Kulturstiftung Anadolu Kültür sitzt seit 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft für seine vermeintliche Rolle bei regierungskritischen Protesten. Kurz nach seinem Freispruch 2020 wurde er erneut festgenommen. Wenige Stunden später erließ die Staatsanwaltschaft Istanbul einen neuen Haftbefehl gegen ihn. Sie behauptet, Kavala hätte sich 2016 am Putschversuch in der Türkei beteiligt. Kavala bleibt weiterhin inhaftiert. Gegen die Richter, die Kavala freigesprochen haben, wird ermittelt. Der Türkei droht wegen des Kavala-Falles der Ausschluss aus dem Europarat.

Çelik: Geschichtliche Dimension der kurdischen Frage

Im Anschluss konnte Mustafa Çelik sich noch einmal zu Wort melden. Das meiste hätten seine Anwälte schon gesagt, er möchte jedoch noch einmal auf die geschichtliche Dimension der kurdischen Frage eingehen. Zunächst begrüßte er die anwesenden Zuhörer*innen, dann referierte er vollkommen ohne Notizen mehrere Stunden lang und nannte dabei genaueste Daten und Namen.

Er ging auf die Ursprünge der kurdischen Geschichte im Neolithikum Mesopotamiens ein. Die landwirtschaftliche Revolution habe dort begonnen. Archäologische Forschungen zeigten eine nicht etatistische, frauenbasierte Gesellschaft. Vor ca. 5000 Jahren begannen jedoch mit der Gründung des sumerischen Staates die Ursprünge der bis heute andauernden Probleme, wie der Klassengesellschaft, Kolonialisierung und Ausbeutung. Gleichzeitig begann jedoch auch die Suche nach Lösungen – unter anderem mit dem Zoroastrismus oder später auch mit Jesus. Die Rolle Zarathustras habe sich auch auf die westliche Philosophie ausgewirkt, so etwa auf Sokrates und später Nietzsche. Diese Philosophie habe ihren Ursprung in Mesopotamien.

Mustafa Çelik spannte einen großen Bogen bis zur osmanischen Zeit und betonte, dass viele verschiedene Völker in dieser Region zusammengelebt hätten. Religionen, Sprachen und vielfältige Kulturen seien kein Hinderungsgrund für die Bevölkerungsgruppen gewesen, ein Ganzes zu bilden. Erst Mitte des 7. Jahrhunderts kam es nach dem Tod Mohammeds zur Zwangsislamisierung. Die Kurden flüchteten in die Berge, 40.000 Menschen wurden ermordet. Im 8. und 9. Jahrhundert tauchten die ersten Türken als Söldner persischer Armeen in der Region auf. Nach und nach wanderten türkische Stämme in die Region ein. Bis ins 19. Jahrhundert habe man jedoch nebeneinander und miteinander gelebt. Bis dahin verwalteten sich die Kurden in ihrer Region selbst. Erst mit dem Vordringen des europäischen Kolonialismus kam der Gedanke des Nationalstaates und damit der heutigen Problematik auf. Das „Türkentum“ habe bis dahin gar nicht existiert und auch die Insignien dieses Staates, wie Hymne, Fahne etc. seien nicht einmal von Türken geschaffen worden.

Als Beispiel für den europäischen Kolonialismus nannte Çelik das Jahr 1916. Die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches wurden für die Zeit nach dem Kriegsende in 22 arabische Staaten als Einflusssphären aufgeteilt. In der Verfassung der Türkei von 1921 komme das Wort „Türke“ nicht einmal vor.

Mit dem Vertrag von Lausanne wurde 1923 das Schicksal der Kurden bestimmt. Sechs Monate später wurde ein kurdischer Genozid beschlossen und 1925 bis 1938 durchgeführt. Südkurdistan wurde an England verschenkt, Nordsyrien an Frankreich. Alle Probleme, die heute bestünden, beruhten nicht auf Problemen zwischen Kurden und Türken, sondern auf den Problemen, die Europa geschaffen habe, so Mustafa Çelik.

GLADIO

1952 trat die Türkei der NATO bei. Sie sollte als Frontstaat gegen Kommunismus und Sozialismus dienen. Die Organisation GLADIO wurde gegründet, um Anschläge durchzuführen, was Anfang der 1990er in Italien aufgedeckt wurde. GLADIO beging Mordanschläge in Chile, Argentinien, Kuba, Nicaragua und eben auch in der Türkei. Der Militärputsch von 1960 war Teil dieser GLADIO-Aktivitäten. Intellektuelle wurden auf offener Straße ermordet. Auch der Militärputsch von 1971 wurde von den USA initiiert, ebenso wie der Putsch von 1980, der den Höhepunkt von Folter und politischen Morden darstellte. Fünf Millionen Menschen seien gefoltert worden. Die Situation sei extremer als die unter der Apartheid in Südafrika gewesen. Daher habe Nelson Mandela auch 1992 abgelehnt, den „Atatürk Friedenspreis“ anzunehmen. Mandela habe gesagt, um zu verstehen, was barbarisch sei, müsse man nur einen Tag als Kurde in der Türkei leben.

Die Türkei sei ohne GLADIO nicht zu begreifen, fuhr Mustafa Çelik fort. Unter Turgut Özal seien das Dorfschützersystem, die Morde unbekannter Täter und der inoffizielle Militärgeheimdienst JITEM installiert worden. Dörfer seien niedergebrannt worden. Dennoch habe Özal versucht, über den damaligen YNK-Vorsitzenden Celal Talabanî mit der PKK und Abdullah Öcalan ins Gespräch zu kommen. Öcalan habe damals schon gesagt, das Problem sei nicht ohne die NATO und GLADIO zu lösen, sie würden Özal nicht am Leben lassen. Genauso sei es auch gekommen. Özal sei vergiftet worden, als er den Waffenstillstand mit der PKK verkünden wollte. Danach habe man die PKK durch das Niederbrennen tausender Dörfer vernichten wollen. Die spätere Ministerpräsidentin Tansu Çiller sei für diese Politik in den USA ausgebildet worden.

Trotz dieser generellen Vernichtungspolitik habe es jedoch immer einen Flügel unter den Generälen gegeben, der eine Politik des Friedens anstrebte und die der NATO/GLADIO ablehnte. Am 1. September 1998 habe Öcalan einen einseitigen Waffenstillstand verkündet und sich anschließend auf den Weg nach Europa gemacht. Massimo D’Alema, der damalige italienische Ministerpräsident, habe ihn unterstützt. 66 Tage lang habe Öcalan jedes Land in Europa angesprochen, um eine politische Lösung der kurdischen Frage voranzutreiben. Erfolglos, man habe Italien massiv unter Druck gesetzt, bis Öcalan das Land verlassen musste. Öcalan habe damals gesagt, es gebe nur zwei Wege: In die kurdischen Berge zu gehen und damit einen Bürgerkrieg auszulösen, oder sich nach Europa und damit in die Gefahr zu begeben, ausgeliefert zu werden. Auf seiner Reise nach Südafrika sei er dann durch ein internationales Komplott ausgeliefert worden. Die USA und Großbritannien hätten ihre Beteiligung daran erklärt. Er sei auf Anordnung Clintons ausgeliefert worden.

PKK kommt in Friedenszeiten auf die Terrorliste

1999 habe die Guerilla alle Kräfte aus der Türkei zurückgezogen. Der Krieg war vorläufig vorbei, Bülent Ecevit war bereit für neue Friedensverhandlungen. In diesem Moment kam der damalige türkische Ministerpräsident auf ungeklärte Weise zu Tode. Während dieser Zeit hätten die USA monatelange Gespräche mit Fetullah Gülen geführt – mit dem Ziel, islamistische und neofaschistische Kräfte in der Türkei zu stärken. Erdoğan habe seine Partei mit dessen Erlaubnis gegründet. Kurz bevor dieser die Macht übernommen habe, wurde die PKK von den USA und Europa auf die Terrorliste gesetzt – zu einer Zeit, als es keinen Krieg gab und in der Türkei nicht einmal bewaffnete PKK-Einheiten präsent waren. Erdoğan kam an die Macht, um den kurdischen Genozid zu vollenden.

Der Mord an Olof Palme

Eine besondere Rolle in der Verhinderung eines Friedens habe der Mord an Olof Palme gespielt. Der Krieg in der Türkei habe damals noch kaum begonnen. Palme sei ein Freund der Kurden gewesen und habe Öcalan nach Schweden eingeladen. Am 28. Februar 1986 wurde Palme ermordet. Schon am nächsten Morgen habe in allen türkischen Zeitungen gestanden, die PKK habe Palme getötet, obwohl er zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch am Leben gewesen sei. Bis zur Ermordung Palmes seien viele Intellektuelle und fortschrittliche Menschen auf Seiten der Kurden gewesen. Der Palme-Mord habe die Situation verändert. Obwohl die schwedische Regierung schon im Jahr 2000 wusste, dass die PKK den Mord nicht begangen hat, hat sie bis heute geschwiegen. 34 Jahre lang wurde behauptet, die PKK habe Palme ermordet, obwohl dies nachweislich eine Lüge war.

Lösung der kurdischen Frage durch Legalisierung der PKK

Am Ende seiner Ausführungen ging Mustafa Çelik darauf ein, dass eine Lösung der kurdischen Frage nur durch eine Legalisierung der PKK möglich sei. Auch Mandela sei als Vertreter des ANC in Verhandlungen mit dem Apartheids-Regime in Südafrika gegangen. Çelik betonte die wichtige Rolle, die Deutschland und Frankreich in diesem Prozess spielen müssten, damit die PKK endlich von der Terrorliste gestrichen werde. Denn die internationale Dimension habe alle Probleme geschaffen und auch nur diese könne die Lösung bringen. Eine Lösung sei nicht von den USA, Russland oder anderen Regimes zu erwarten, sondern allein von Europa.

Während der Darlegung seiner Sicht auf die kurdische Frage wurde der Angeklagte mehrmals von der Vorsitzenden Richterin unterbrochen: Er solle doch zum Punkt kommen. „Darum sitze ich doch hier“, entgegnete Mustafa Çelik: Wegen all der Punkte, die er erklärt habe, die der Westen begangen habe, um die PKK zu marginalisieren. Bevor die Verhandlung vertagt wurde, kündigte er an, am Donnerstag noch auf die Rolle der PKK, seine eigene Rolle und den Mittleren Osten einzugehen.