Vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist am Mittwoch der §129a/b-Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Mustafa (Amed) Çelik fortgesetzt worden. Die beiden Verteidiger Heinz Schmitt und Tuncay Karaman trugen ihre Plädoyers vor. Rechtsanwalt Schmitt wird seine ausführlichen Darlegungen zur kurdischen Frage am 23. September fortsetzen. Die Staatsanwaltschaft hat bei der letzten Verhandlung zwei Jahre und acht Monate Freiheitsstrafe gefordert.
Am gestrigen Sitzungstermin wurde zunächst ein Interview mit dem KCK-Vorsitzenden Cemil Bayik durch Rechtsanwalt Schmitt eingeführt, woraufhin eine einstündige Unterbrechung zwecks eines Selbstleseverfahrens angeordnet wurde. Nach der Unterbrechung gab der Staatsanwalt zu Protokoll, das Interview veranlasse ihn nicht zu einer „abweichenden Würdigung", nach wie vor gebe es keine politische Verfolgung der PKK in Deutschland.
Karaman: „Mustafa Çelik wird als legitimer Vertreter betrachtet“
In Bezug auf den Vorwurf, sein Mandant habe als Gebietsleiter der PKK gute Verbindungen in die örtliche Politik in Bremen und Salzgitter gehabt, führte Verteidiger Tuncay Karaman an, dass die Einflussnahme auf politische Akteure zugunsten der kurdischen Gemeinde durchaus üblich ist. So könnten Gemeinschaften mit gleichgelagerten Interessen ihre Anliegen in die Parlamente einbringen. Mustafa Çelik werde in der kurdischen Community als legitimer Vertreter betrachtet.
„Kampf der PKK gegen den türkischen Staat ist völkerrechtlich legitim"
Karaman bezog sich in seinem Plädoyer auf das Urteil des belgischen Kassationsgerichtshofes aus diesem Jahr, laut dem die PKK eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist. Die PKK erfülle die notwendigen Kriterien dazu, wie beispielsweise „ein gewisser Organisationsgrad und die Befähigung, militärische Aktionen durchzuführen". Wenn nicht-staatlichen Akteuren das Kombattantenprivileg bzw. Widerstandsrecht nicht zugesprochen wird, erfolge keine Gleichbehandlung der Kriegsparteien.
Im weiteren Verlauf seines Plädoyers ging Verteidiger Karaman immer wieder auf die massive Unterdrückungspolitik des türkischen Staates ein, aufgrund derer die PKK entstanden ist. Er erwähnte die vielen Massaker am kurdischen Volk, die Praxis des „Verschwindenlassen“ in den 90er Jahren bis hin zu den Repressionswellen gegen die gesellschaftliche und politische Opposition in den 2000er Jahren, die heute einen neuen Höhepunkt finden. Ebenso sprach er die gezielte Ermordung von kurdischen Intellektuellen wie zum Beispiel des Vorsitzenden der Anwaltskammer von Amed (türk. Diyarbakir), Tahir Elçi, an: „Dieser Mord steht stellvertretend für die tausenden Morde in den 80er und 90er Jahren, die bis heute nicht aufgeklärt wurden, sowie die extralegalen Hinrichtungen vermeintlicher PKK-Sympathisanten."
„Keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der kurdischen Freiheitsbewegung“
Rechtsanwalt Heinz Schmitt legte in seinem Plädoyer ausführlich dar, warum Abdullah Öcalan nicht nur als Anführer des kurdischen Volkes bezeichnet werden kann, sondern auch als Repräsentant, Vordenker und Theoretiker anerkannt ist. Seit dem Paradigmenwechsel liege der Fokus der kurdischen Befreiungsbewegung auf der Errichtung eines demokratischen Konföderalismus und nicht mehr auf einem eigenen Staat. An den Staatsanwalt gewandt sagte Schmitt: „Wer Öcalan liest, weiß das auch." Der Rechtsanwalt bemängelte, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der kurdischen Bewegung im Gerichtsverfahren gefehlt habe.
„Auch die Geiselnahme Öcalans hat die kurdische Frage nicht beendet"
In einem kurzen Abriss skizzierte Schmitt den Zeitraum vom 9. Oktober 1998 bis zum 15. Februar 1999, der von der kurdische Bewegung als „interntionaler Komplott" bezeichnet wird und an dessen Ende die Auslieferung von Öcalan an die Türkei stand. Die USA sowie Staaten Europas, Asiens und Afrikas waren an dieser Intrige aus verschiedensten nationalstaatlichen Interessen und außen- und innenpolitischen Verflechtungen beteiligt.
Die später erfolgten Friedensverhandlungen von Oslo führten nicht zu einer Veränderung des Status der PKK in der Türkei und endeten nach drei Jahren mit einer erneuten Repressionswelle.
Newroz-Erklärung 2013: Eine neue Ära beginnt
Um die Bemühungen für eine friedliche Lösung der kurdischen Bewegung rundum zu verstehen, legte Verteidiger Schmitt dem Gericht eine „dringende Auseinandersetzung mit der Newroz-Erklärung von 2013" nahe. Er bezeichnete die Erklärung von Abdullah Öcalan als den „Beginn einer neuen Ära für demokratische Rechte". Die Kurden hätten demnach ein Identitätsbewusstsein entwickelt. Der Kampf für Gleichheit und Freiheit sollte weitergehen, allerdings sollten laut Öcalan die Waffen künftig schweigen.
Schmitt ging auch auf das in den Autonomiegebieten in Nord- und Ostsyrien nach den Vorstellungen von Abdullah Öcalan aufgebaute Gesellschaftssystem ein. Mit den Grundprinzipien Geschlechtergerechtigkeit, Basisdemokratie und Ökologie habe sich in Rojava eine emanzipatorische Alternative zum Nationalfaschismus in der Türkei entwickelt, die eine Vorreiterrolle für den gesamten Nahen und Mittleren Osten einnehme.
Schmitt: „Früher wurden Dörfer niedergebrannt, heute ganze Städte"
Damit diese demokratischen Errungenschaften der Völker Nordostsyriens nicht auf die Türkei übergreifen, und auch um das kurdische Volk im eigenen Land weiter zu unterdrücken, folgten 2015 schwere systematische grundrechtliche Vergehen in der Türkei und Nordkurdistan, führte Rechtsanwalt Schmitt weiter aus: Die Annullierung der Wahlergebnisse und die darauffolgenden Städtekriege in den kurdischen Gebieten der Türkei. Durch die verhängten Ausgangssperren konnten die Menschen monatelang ihre Häuser und Wohnungen nicht verlassen, ganze Städte wurden zerstört. Dass die EU und allen voran Deutschland zu diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schweigt, führte Schmitt auf den Flüchtlingsdeal, den NATO-Stützpunkt Türkei und wirtschaftspolitische Interessen zurück.
Rechtmäßiger Freiheitskampf gegen rechtswidrigen Terrorismus
„Widerstandsrecht gilt, wenn es zur Wahrung der Menschenrechte dient, und legitimer Widerstand muss von Terrorismus abgegrenzt werden", konstatierte die Verteidigung zum Ende des gestrigen Sitzungstag.
Die Verhandlung wird am 23. September um 10 Uhr vor dem OLG Hamburg fortgesetzt. Weitere Termine sind angesetzt für den 24. und 30. September und den 1. Oktober.