Bundeskanzlerin Angela Merkel hat auf der Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gefordert. Alle Urteile, insbesondere die zu politischen Gefangenen, müssten respektiert und sofort vollstreckt werden.
„Überall um uns herum sehen wir, dass grundlegende Menschenrechte, nicht zuletzt die Freiheit der Medien und die Meinungsfreiheit, beschnitten werden. Wenn wir uns scheuen, uns der Tatsache zu stellen, dass unsere Grundrechte, das Herzstück unserer demokratischen Bestrebungen, verletzt werden, würde das unsere gesamte europäische Vision in Frage stellen“, sagte Merkel. Rechtsstaatlichkeit sei „eine wesentliche Voraussetzung für das Vertrauen der Bürger in ihren Staat und in seine Institutionen. Die Menschen müssen darauf vertrauen können, dass ihr Staat die Verpflichtungen erfüllt, die er nach dem Völkerrecht eingegangen ist, und dass er deshalb dem Völkerrecht und den Gerichten unterworfen ist. Dieses Vertrauen ist eine Vorbedingung für eine funktionierende und stabile Demokratie.“
Es sei besorgniserregend, dass „in einigen europäischen Ländern die Gewaltenteilung in Frage gestellt und die Rechte der Justiz beschnitten werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht mehr als 800 Millionen Menschen auf dem gesamten europäischen Kontinent zur Verfügung, denn ihre Rechte sind in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert und spiegeln sich in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen wider. Doch viele Länder zögern, wenn es darum geht, Urteile des Gerichtshofs tatsächlich umzusetzen, oder setzen sie gar nicht erst um. Deshalb ist es wichtig, dass alle Urteile, insbesondere die zu politischen Gefangenen, respektiert und sofort vollstreckt werden. Wir können keinen Vorrang des nationalen Rechts vor den in der Europäischen Konvention verankerten Rechten dulden", so die Bundeskanzlerin.
Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention
Die Türkei erwähnte Merkel in ihrer Rede lediglich im Zusammenhang mit dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention: „Wir feiern den 10. Jahrestag der Öffnung zur Unterzeichnung der Istanbul-Konvention, die Maßstäbe für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt setzt. Deshalb bedauere ich es sehr, dass die Türkei beschlossen hat, sich aus dieser Konvention zurückzuziehen. Ich hätte mir gewünscht, dass sie bleibt, und ich fordere alle Mitglieder des Europarates, die das noch nicht getan haben, auf, die Konvention zu unterzeichnen. Die Rechte der Frauen sind Menschenrechte. Frauenrechte dürfen nicht ignoriert werden, und jede Verletzung dieser Rechte ist ein Verbrechen - und muss als solches benannt werden. Dies ist umso wichtiger, als die Gewalt gegen Frauen vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie zunimmt."
Selahattin Demirtaş und Osman Kavala: Trotz EGMR-Urteil im Gefängnis
Der Europarat ist eine von der EU unabhängige internationale Organisation, zu der fast alle europäischen Länder gehören, unter anderen die Türkei und Russland. Deutschland sitzt derzeit dem Ministerkomitee vor. Die derzeit bekanntesten Fälle, in denen die Türkei EGMR-Urteile zu politischen Gefangenen nicht umgesetzt hat, sind der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş und der Bürgerrechtler und Kulturmäzen Osman Kavala.
Der europäische Menschenrechtsgerichtshof hatte im November 2018 erstmals entschieden, dass die zum damaligen Zeitpunkt zweijährige Untersuchungshaft von Demirtaş unrechtmäßig ist. Dieses Urteil wurde durch eine Ad-hoc-Verurteilung in einem der zahllosen Strafverfahren gegen den kurdischen Politiker unterlaufen. Im Dezember 2020 befasste sich die Große Kammer des Straßburger Gerichts mit dem Fall und ordnete erneut die Freilassung Demirtaşs an. Auch diese Entscheidung wird von der türkischen Justiz ignoriert.
Osman Kavala ist seit Oktober 2017 in türkischer Haft. In seinem Fall hatte der EGMR im Dezember 2019 die sofortige Freilassung angeordnet.